»Bist du endlich soweit?« Aidens Stimme klingt ein kleines bisschen genervt.
Augenverdrehend schlüpfe ich in die Schuhe mit dem besten Profil, die ich besitze. Also ein Paar Winterstiefel. In den vergangenen Jahren hatte ich sie eher selten an, allerdings habe ich von unserem letzten Ausflug gelernt, dass sich weiße Sneaker oder irgendwelche Trittchen im unebenen Gelände des Waldes nicht allzu gut machen. Es war Aidens Idee noch einmal einen Ausflug in die Natur zu unternehmen, bevor das Wetter nun auch hier in Effingham bald schlechter werden wird. Mir gefällt unser Vorhaben. Wobei ich vermutlich jedem Vorschlag zugestimmt hätte, um Zeit mit einem Freund verbringen zu können.
»Bin schon auf dem Weg«, rufe ich in die untere Etage unseres Hauses zurück. So ganz stimmt das nicht, denn diese Mistdinger an meinen Füßen wollen einfach nicht so recht zugehen. Ob sich die Erfinder der Schnürsenkel überhaupt Gedanken darüber gemacht haben, dass es Menschen gibt, die in stressigen Momenten einfach keine ruhigen Finger haben, um diese dämlichen Stofffetzten ineinander zu verknoten? Anscheinend nicht. Im Augenblick wünschte ich mir, ich hätte meine Kinderschuhe mit Klettverschluss behalten. Es wäre so viel einfacher. Und passen würden sie mit Sicherheit genauso gut. Denn als ich es endlich geschafft habe die Stiefel ordentlich zu schließen, muss ich mit Bedauern feststellen, dass sie mir zwar grundsätzlich noch an die Füße passen, eine Nummer größer aber auch nicht geschadet hätte. Das wird ein langer Tag für meine armen Zehen. Wobei der Gedanke, dass Aiden mich den gesamten Weg zurücktragen müsste, wenn ich wegen ein paar Blasen nicht mehr anständig laufen könnte, ist schon verlockend.
Grinsend werfe ich einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Zopf sitzt, das rot, schwarz karierte Hemd habe ich am unteren Saum zu einem Knoten zusammengebunden, die Ärmel nach oben gekrempelt und meine Jeans hat ihre besten Tage längst hinter sich. Gut so, denn der Wald ist kein Beautypalast. Zufrieden werfe ich mir den großen, grauen Wanderrucksack über die Schultern. Aiden und ich haben den halben Abend damit verbracht, ihn zwischen dem vielen Gerümpel auf Vic und Richs Dachboden zu finden. So verstaubt wie das Teil ist, muss es da oben wohl schon ein paar Jahre abgesessen haben.
»Da bist du ja.« Aiden nimmt mir direkt den schweren Rucksack ab, um ihn selbst zu schultern. Schmerzerfüllt verzieht er das Gesicht.
»Na, tuts noch weh?«, frage ich durchaus amüsiert.
»Das ist nicht lustig«, bremst er mich aus.
Tatsächlich hat Aiden es gestern beim Kochen fertig gebracht beim Zwiebeln schneiden das Gemüse mit seinen Gliedmaßen zu verwechseln. Seitdem ich seinen Finger also liebevoll verarztet habe, ziert ein weißer Verband seine rechte Hand. Für uns war es Grund genug uns einzureden, dass Aiden so auf gar keinen Fall allein nach Hause gehen kann. Folglich haben wir es uns später auf der Couch gemütlich gemacht und müssen dort auch irgendwann eingeschlafen sein.
»Ich bin mir sicher, es würde gar nicht erst weh tun, wenn du die Zwiebel und nicht mich angeschaut hättest, während du mit dem schärfsten Messer unserer Kücheneinrichtung hantierst.«
Mich nachahmend zieht Aiden eine Grimasse und schnappt sich auch noch die kleine Kühltasche.
»Ich kann auch was nehmen«, biete ich ihm selbstverständlich meine Hilfe an. Soweit kommt es noch, dass er ganz allein unsere Getränke und unsere Snacks den ganzen weiten Weg tragen muss. Ich weiß zwar nicht, wo genau es hingehen soll, aber Aiden meinte, dass wir knapp zwei Stunden unterwegs sein werden, bis wir unser Ziel schlussendlich erreichen.
Nur widerwillig gibt er mir dann doch die kleine Tasche und wir beide machen uns auf den Weg in eine Welt ohne Menschen, Autos, festen Wegen und vor allem ohne Empfang. Victoria habe ich bereits gestern Abend eine kurze Nachricht geschrieben, damit sie sich keine Sorgen macht, wenn ich nicht erreichbar bin. Dabei habe ich eine Lüge mehr auf mein Konto gewonnen. Denn Josie und ich würden uns vermutlich niemals freiwillig melden, um für das nächste Kreativprojekt nach herumliegenden Hölzern zu suchen. Aber was solls. Hauptsache Aiden und ich haben unsere Ruhe.Es ist ein seltsam angenehmes Gefühl einfach mal nur für sich zu sein. Niemand, der einen anrufen oder nerven kann. Nur das leise Zwitschern der Vögel, das knacken dünner Zweige unter unseren Schuhen. Absolute Stille. Kein Internet, kein social media. Fast, als hätte unser bisheriges Leben aufgehört zu existieren. Als hätten wir alle Zeit der Welt ohne uns von Uhren und Mitmenschen hetzen zu lassen. Diese Hoffnung ist leider viel zu schön um wahr zu sein.
DU LIEST GERADE
too close
Teen FictionLyn, ein junges eher in sich gekehrtes Mädchen wird unverhofft adoptiert. Mit dem Umzug in einen fremden Bundesstaat muss sie ihr altes Leben hinter sich lassen. Besonders schwer fällt ihr der Abschied von ihrer besten Freundin. Denn Alli ist die ei...