Chapter 6

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Genervt schob ich mich an ein paar knutschenden 15-Jährigen vorbei durch den eh schon engen Gang. Dass er noch zusätzlich von zwei liebestrunkenen Kindern versperrt wurde, machte die ganze Angelegenheit für mich nicht gerade einfacher. Ich hatte mittlerweile schon fast das Ende des Zuges erreicht und so langsam begann ich zu bereuen nicht einfach bei Jeff und seinen Freunden geblieben zu sein, denn je weiter ich dem letzten Wagon entgegen ging, desto weiter würde ich zu ihnen zurücklaufen müssen, sollte ich die Zwillinge und Daisy nicht finden. Des Weiteren schrumpfte die Chance, die Drei noch zu finden immer tiefer mit jedem Schritt, den ich in Richtung Zugende machte. Denn das letzte Abteil war immer von der gleichen Truppe von Schülern besetzt. Sie hatten es inoffiziell annektiert, allerdings brachte kaum einer den Mut auf, es "der Elite", als die sie sich selbst gern bezeichneten, streitig zu machen. Als ich bei meinem ersten Mal im Zug das Abteil auf der Suche nach Taze, den ich im Menschengewirr verloren hatte, betreten hatte, hatte man mich so zur Schnecke gemacht, dass ich nach wenigen Minuten mit nassen Augen und unschönen, roten Flecken im Gesicht davon gelaufen war. Als später herausgefunden wurde, dass ich ein Morrin-Spross war, hatte ich natürlich sofort eine geheuchelte Entschuldigung und eine Einladung, beim Dinner bei sich zu sitzen, erhalten, welcher ich selbstverständlich nicht gefolgt war.
Als ich schon kurz davor war, die Hoffnung aufzugeben, hörte ich ein einzigartiges Lachen, das ich wohl immer erkennen würde und meine verdrossene Miene hellte sich augenblicklich auf. Ich beschleunigte mein Tempo und zog mit einem kräftigen Ruck die Tür zu dem Abteil auf, aus dem das Lachen gekommen war. Und was ich in diesem Abteil vorfand, ließ auch mich sofort grinsen:
Freddie, der in ein nicht zukontrollierendes Gelächter ausgebrochen auf dem Boden lag, sein zurückhaltenderer Zwilling lachend auf der Sitzbank und Daisy, die sie über den Rand ihres Buches hinweg kopfschüttelnd beobachtete. Diese Situation war, wenn die Drei zusammen waren so sicher, wie das Amen in der Kirche. Virgil war der Erste, der mich bemerkte. Er war schon immer eher von der stilleren Sorte gewesen. Er beobachtete mehr seine Umgebung, als dass er ihr Mittelpunkt war. Ganz anders als sein Bruder, der bei jeder Gelegenheit einen Witz riss oder irgendetwas anderes tat, das Aufmerksamkeit erregte. Nichtsdestotrotz war Virgil wahnsinnig charmant und höflich. Er war ein Gentleman der alten Schule und das schätzte ich auch so sehr an ihm. Denn in Crownswell ist sowas heutzutage nicht mehr leicht zu finden. Selbstverständlich waren alle meine Mitschüler bestens erzogen, denn auch gutes Benehmen wurde uns auf dem Internat eingetrichtert. Dennoch waren die meisten meiner männlichen Zeitgenossen verzogene Arschgeigen, die sich nur dann an die Kniggeregeln hielten, wenn es irgendwelche Hände zum Schütteln und Hintern zum Reinkriechen gab. Sonst ließen ihre Manieren zu Wünschen übrig. Auch Freddie konnte zuweilen etwas derb sein, aber er meinte das niemals böse. Im Gegensatz zu manch Anderem, der einfach nur Spaß daran hatte, jüngere, ärmere oder kleinere zu quälen. So jemand war beispielsweise Jasper Davies. Wenn mein Leben wie Harry Potter wäre, dann wäre Jasper Draco Malfoy, ohne jeden Zweifel. Er war ein genauso aufgeblaser, arroganter und voreingenommener Snob, wie Harry's angebliche Nemesis. Immer öfter machte er diejenigen zur Schnecke, die er für weniger wert hielt als sich selbst. Meine liebe, süße, kluge beste Freundin Daisy zählte mit zu seinen Lieblingsopfern. Fast jeden Tag hatten sie unter seinem Hohn zu leiden. Allerdings nahm sie die Sache nicht so ernst. Es verletzte sie zwar, aber sie hatte mit der Zeit gelernt, das zu ignorieren. Selbst wenn ich jedesmal fast explodierte, wenn Davies wieder einen seiner unangebrachten Sprüche riss, hielt mich Daisy zurück, indem sie mir sagte, er sei meine Aufmerksamkeit und meine kostbare Zeit, die ich auch hervorragend zum Lernen gebrauchen könnte, nicht wert. Sie war nunmal einfach viel schlauer als alle anderen und wie heißt es immer so schön? Der Klügere gibt nach.

,,Mia...", hörte ich Virgil sagen. Er sah mich mit großen Augen an und lächelte, doch noch bevor ich auch nur im Entferntesten etwas erwiedern konnte, warfen sich mir zwei dünne, jedoch überraschend starke Mädchenarme um den Hals und zerrten mich an den dazugehörigen Körper. Fast augenblicklich stieg mir der bekannte Geruch ihres Parfums in die Nase. Daisy hatte nie ein anderes benutzt. In den drei Jahren, in denen wir und noch zwei weitere Mädchen uns bis jetzt das Zimmer geteilt hatten, hatte sie immer den selben zarten Blumenduft getragen.

,,Mia! Herr Gott, wieso hast du dich nicht bei mir gemeldet?! Ich hab mir Sorgen gemacht, als ich dich nicht am Bahnsteig gesehen hab! Ich-", beschwerte sich die kleine Blondine tadelnd ehe Virgil sie abwürgte. ,,Daisy, lass sie doch erstmal ankommen. Die Arme kriegt ja gar keine Luft...", sagte der Große mit seiner tiefen Stimme schmunzelnd bevor er mich einmal fest in den Arm nahm. Er schenkte mir ein warmes Lächeln und trat dann zur Seite damit nun auch der Letzte im Bunde seine Begrüßung aussprechen konnte. Und die sah so aus wie immer: Laut lachend kam Freddie auf mich zu gestürzt, drückte mich fest an sich, hob mich dabei hoch und drehte sich dann im Kreis. In einem kleinen Zugabteil stellte sich das allerdings als problematischer heraus als es am Bahnhof ist, wo wir uns sonst immer schon begrüßt hatten. Von daher war es nur eine Frage der Zeit bis wir beide umfallen und auf einem der weichen, roten Polster landen würden. Doch wie immer interessierte Freddie und mich das herzlich wenig. Wir waren beide einfach zu fröhlich, lachten zu viel als dass es uns wirklich stören könnte. Nach ein paar Minuten des schlichten Lachens und Umarmens beruhigten Freddie und ich uns allmählich. Als wir es uns dann auf den Sitzbänken gemütlich gemacht hatten, wendete ich mich wieder Daisy zu. Man konnte ihr ansehen, dass sie wie auf heißen Kohlen sitzend darauf wartete, dass ich ihr erzählte, was im Sommer mit mir geschehen war. Ihr bittender Blick ließ mich schließlich nachgeben.

,,Alsooooo...", begann sie vorsichtig, ,,Was ist denn jetzt genau passiert in den letzten Wochen? Ist das, was die Zeitungen berichten die Wahrheit?"

Ich entschied mich es ihnen jetzt noch nicht zu sagen. Ich wollte es den Dreien in einer stillen Minute erzählen, wenn ich außerdem die Möglichkeit hatte mich zurück zu ziehen, wenn nötig. In einem überfüllten Zug, in dem ich nirgendwo würde alleine sein können, schien mir von daher nicht der richtige Ort dafür zu sein. Also sah ich mich gezwungen etwas zu tun, was ich vorher noch nicht einmal in meinen kühnsten Träumen getan hätte. Ich log meine Freunde an.

,,Ja. Peinlich, oder? Und jetzt ist ganz England von meinem Unvermögen in Kenntnis gesetzt...". Ich versuchte so locker, wie möglich zu klingen. ,, Aber es ist ja nix Großartiges passiert. Nur ein verstauchter Zeh. Da bin ich nochmal gut von weg gekommen. Es gibt Leute, die brechen sich bei einem Sturz vom Pferd beide Arme..."

Meine Freunde sahen mich skeptisch an. Zumindest Daisy und Virgil. Freddie lächelte lediglich amüsiert.

Gerade als ich dachte, die Sache wäre geklärt, erhob meine beste Freundin ihre zarte Stimme:,,Ja schon, aber.....Mia, du bist doch noch nie geritten..." ,,Deswegen bin ich ja auch runter gefallen!", fuhr ich sie ruppig an. Daisy schreckte zurück. ,,Ich wollte dich nicht aufregen, Mia. Kein Grund mich so anzumeckern. Ich frag mich nur, weshalb du jetzt auf ein mal mit Reiten anfangen wolltest. Du hast nie erwähnt, dass du da Interesse dran hast.", versuchte sie mich zu beruhigen. ,,Hab' ich aber!" , zickte ich wieder. Freddie legte behutsam eine seiner großen Hände auf meine Schulter. ,,Mia, komm' mal wieder runter. Daisy wollte dich nicht angreifen. Sie macht sich einfach Sorgen...", setzte jetzt auch er an. Als ich seine blau-grünen Augen sah, die mich mitleidig anstrahlten, wurde mein Herz wieder weich und meine Wut löste sich in Wohlgefallen auf.

,,Ihr habt recht. Entschuldigt bitte. Ich bin noch ein bisschen angefressen, weil ich eben auf der Treppe einer gewissen Person begegnet bin, ihr wisst von wem ich spreche, und das hat mir gewaltig den Tag versaut...", versuchte ich mich zu entlassten. ,,Lass mich raten: Davies?", warf Virgil dazwischen. Ein schlichtes Nicken war Antwort genug. ,,Hast du ihn wenigstens ordentlich angeschnauzt?", erkundigte Freddie sich. Ich begann zu grinsen. ,,Ja, denke schon. Ich musste alleine mit 2 schweren Koffern die Treppen rauf klettern und er is' mir auf den Fuß getreten, sodass ich hin gefallen und die Stufen wieder runtergerutscht bin. Er wollte mir nicht helfen, da hab ich ihn ziemlich angemotzt." Empörtes Stönen und nach Luft Schnappen war die Reaktion der Zwillinge. ,,Das ist aber nicht die feine englische Art...!", murrte Virgil entrüstet während Freddie es etwas gröber ausdrückte. ,,Was für ein ein Arsch!", sagte er zornig. ,,Musstest du die Koffer dann ganz alleine wieder hochschleppen? Dann is' es ja kein Wunder, dass du so spät kamst...", merkte er noch an, ehe ich ihm versicherte, dass Jeff dann gekommen war und mir geholfen hatte. Meine verträumte Beschreibung, wie Jeff mir, ganz der Gentleman, der er ja nunmal war, die Koffer getragen hatte, bedachte Daisy, die wieder zu Lesen begonnen hatte, mit einem wissenden Grinsen. Ähnlich wie Virgil, der mir mit einem freundlich Lächeln zuhörte. Nur von seinem Bruder erntete ich einen missgünstigen Blick, den ich zu dem Zeitpunkt allerdings nicht bemerkte.

Der Rest der Fahrt verlief so entspannt wie immer. Auch wenn wir 4 von Zeit zu Zeit etwas nostalgisch wurden angesichts der Tatsache, dass dieses Jahr unser Letztes in Crownswell sein würde....

Love's a desperate thingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt