Stumm betrachtete ich die Schneeflocken, wie sie sich sanft wie eine weiche, weiße Decke auf die großen Hecken in unserem Garten fallen ließen. In eine dicke Strickjacke eingewickelt saß ich auf einer kornblumenblauen Couch vor meiner riesigen Fensterfront. Der Himmel war mittlerweile tiefschwarz und düstere Wolken verdunkelten jeden der unzähligen Sterne. Das Gespräch mit meiner Großmutter hatte mich dermaßen aufgewühlt, dass ich mehrere Stunden nur weinend in meinem Zimmer gesessen hatte. In der Zeit hatte ich mir alles, was mir in diesem einen halben Jahr widerfahren war, durch den Kopf gehen lassen und war einzig und allein zu dem Entschluss gekommen, dass mein Leben ein Trümmerfeld war. Körper wie Seele waren mir in den vergangenen Monaten geschändet worden. Jedoch hatte mein Herz am meisten gelitten. Es schien mir beinahe unmöglich, dass ein einziger Muskel so sehr schmerzen konnte. Ich war nicht in der Lage zu zählen, wie oft es in dieser vergleichbar kurzen Zeit schon starke Hiebe zu verkraften gehabt hatte und wie viel es dennoch aushielt.
Fast schon taub starrte ich aus dem Fenster. Mein Kopf war jetzt wie leergefegt, eine gähnende Leere okkupierte mein Zerebrum, sodass ich teilnahmslos und auf dem Sofa zusammengekauert der viel zu lauten Stille um mich herum lauschte. Ein zaghaftes Klopfen an meiner Zimmertür unterbrach meine Trance und ich sprach das erste Mal seit ein paar Stunden wieder. ,,Was?", krächzte ich unbeteiligt und lustlos. Die Tür wurde geöffnet und wenige Momente später stieg mir der Geruch von Männerparfum in die Nase. ,,Wieso hast du Grandma damals belogen?", wisperte ich starr ohne meinen Blick vom Fenster abzuwenden. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Taze vorsichtig auf mich zukam. ,,Weil ich dich schützen wollte.", antwortete mein Bruder schlicht. ,,Wäre ich nicht besser beschützt, wenn Mum und Dad wegen Kinderschändung im Knast säßen?" Taze ließ sich langsam auf einem farblich zur Couch passenden Ohrensessel nieder. ,,Hör mal zu, Ammi, so einfach is das alles nicht. Mum und Dad haben mir gedroht, dir noch mehr weh zu tun, wenn ich wieder was sage. Ich hab das damals nur zu deinem Wohl getan.", erklärte er genervt. Ich ignorierte ihn. Ich war so wütend auf ihn, weil er nicht gehandelt hatte, als die Chance dazu zum Greifen nah war. Er hatte es im Grunde nur schlimmer gemacht, als es seinerzeit eh schon gewesen war und ich wusste nicht, wie ich ihm das verzeihen sollte aus dem schlichten Grund, dass ich sein Handeln ausnahmsweise mal nicht verstand. Es entstand eine unangenehme Stille zwischen uns, in der ich einfach weiter aus dem Fenster sah und Taze versuchte einen Weg zu finden, zu mir durchzudringen. ,,Außerdem sind die beiden immer noch unsere Eltern. Es fiel mir schwer, Grandma überhaupt einzuweihen. Der Gedanke, dass Mum und Dad im Gefängnis wären, hat mir Angst gemacht. Seine Eltern zu verklagen ist nicht so einfach, wie du vielleicht denkst." Das erste Mal seitdem er mein Zimmer betreten hatte, schaute ich meinen Bruder an nur um zu sehen, wie er verbittert auf meinen Teppichboden stierte. ,,Nicht so einfach?! Sie schlagen uns, Taze! Wie kann man da denn noch zögern und sie nicht sofort anzeigen?! Du bist einfach nur zu feige dafür und hast Angst vor den Konsequenzen oder vor der schlechten Presse! Du bist nicht besser als die, Taze!", warf ich ihm empört vor. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so sehr von jemandem enttäuscht worden. Die Dinge, die Taze sagte, machten für mich überhaupt keinen Sinn und ich fühlte mich von ihm hintergangen. Plötzlich schaute er auf und ich entdeckte die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen, die sich immer bildete, wenn er wütend wurde. ,,Ach ja? Und wieso hast du sie dann noch nicht längst bei der Polizei beschuldigt?! Du hast genauso Angst davor, wie ich! Also tu nicht so tough und nenne mich einen Feigling, wenn du keinen Deut besser bist!" Ich erschrak angesichts seines harten Tonfalls. Ich hatte Taze schon oft wütend erlebt, aber nie mir gegenüber. Er schien kurz davor zu explodieren und ich starrte wir paralysiert auf die hervortretende Ader an seiner Stirn. Für einen Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, fixierte er mich, so als ob, er mir gleich an die Gurgel gehen wollte, ehe Taze sich aufgebracht mit der Hand über's Gesicht fuhr und aufstand. ,,Es gibt gleich noch Essen. Mum und Dad sind wieder da.", sagte er kühl und ging zur Tür. ,,Ich hab keinen Hunger.", murmelte ich Zähne knirschend. ,,Dann trinkst du eben nur was.", gab Taze gleichgültig zurück. ,,Und was, wenn ich nicht mit den Irren und dir, ihrem unterwürfigen Komplizen, essen will?!", zickte ich und drehte mich streitsüchtig in seine Richtung. Er war schon bei der Tür und wandte sich kurz zu mir. Er hielt inne und sah mich an, als ob er noch etwas sagen wollte. Kurz öffnete er seinen Mund jedoch schloss er ihn schnell wieder. Dann wandte er sich kopfschüttelnd wieder ab und knallte hinter sich die Tür zu, sodass ich zusammen zuckte. Ich hörte noch kurz zu, wie Taze' schwere Schritte durch die breiten Flure des Westflügels halten, bis sie zu weit entfernt waren, als dass sie zu mir schallen konnten und dann war ich wieder nur für mich. Ich begann wieder leise zu weinen. Ich war einsam. Nur die vielen Fotos meiner Freunde schauten mir dabei zu, wie ich mutterseelenallein in meinem riesigen Zimmer kauerte. Doch nichtmal das strahlende Lächeln von Daisy oder die Erinnerung an meine 16. Geburtstagsfeier zusammen mit den Zwillingen konnten mich meine Einsamkeit vergessen lassen. Noch nie habe ich mich so allein gefühlt, wie an diesem Tag, an dem ich glaubte, meinen Bruder verloren zu haben.
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Love's a desperate thing
Teen Fiction,,Wenn ich Lust auf etwas Versautes hätte, könnte ich mir das fast überall holen. Dafür brauche ich dich nicht.", stellte er kühl fest. Dieses arrogante, schmierige Gehabe bereitete mir Übelkeit. Das war mir dann doch zu viel und ich entschied, dass...