Chapter 26

60 3 0
                                    

Der nächste Morgen kam viel zu schnell. Ich hatte Taze' Wunden letzte Nacht bis in die frühen Morgenstunden verarztet. Normalerweise ging es immer relativ schnell, weil wir nach mehreren Jahren von Misshandlung mittlerweile gelernt hatten, wie man Platzwunden und andere Prügelmale behandelte, aber dieses Mal hatte meine Mutter echt ganz schön zugelangt und Taze somit ziemlich stark verletzt. Er hatte jetzt ein hübsches Veilchen und mehrere geklebte Schrammen im Gesicht. Ich beobachtete ihn mitleidig, als er mir am Frühstückstisch gegenüber saß und sich ziemlich schwer damit tat, sein Brötchen zu essen, ohne dass ihm der Unterkiefer weh tat. Ich hatte schon aufgegessen und schaute jetzt amüsiert meinem Bruder zu, der mit seinem mittlerweile dritten Mohnbrötchen mit Käse und Schinken so aussah, als müsste er eine brühend heiße Kartoffel im Ganzen essen. Es war gerade mal 8 Uhr in der früh und wir waren beide ausgesprochen müde, aber unser Flieger nach Plymouth ging um halb 10 und nur deshalb hatten wir uns zum Frühstück gequält. Zu unser beider Wohlwollen schliefen unsere Eltern noch, sodass wir ihrem Wahnsinn heute Morgen nicht ausgesetzt sein mussten. Nach der gestrigen Nacht wäre das vermutlich auch für keine der beiden Parteien glimpflich ausgegangen.


Nachdem Taze gute 15 Minuten später auch endlich mit essen fertig war, machten wir uns auf zum Flughafen. Der Verkehr verhielt sich ruhig auch wenn er aufgrund des vielen Neuschnees etwas langsam vorwärts ging. Aber Taze und ich hatten das eingeplant. Von daher brachten diese Verzögerungen unseren Zeitplan nicht großartig durcheinander. Wir ließen uns von unserem Fahrer das Gepäck aus dem Kofferraum geben und stiefelten dann mit jeweils einer großen Reisetasche beladen durch den überfüllten Flughafen. Es wurde einem mit jedem Schritt, den man durch die sich gegenseitig drängende Menschenmasse machte, bewusster, wie nahe die Feiertage waren. Es war der 23. Dezember, die Menschen machte sich auf den Weg zu ihren Familien. Den vielen anderen Flugpassagieren war es zu verdanken, dass Taze und ich den Flieger nur knapp erreichten. Als wir dann endlich auf unseren Erste-Klasse-Plätzen saßen und ich mich wieder einigermaßen beruhigt und meinen Atem wiedergefunden hatte, kam die große Vorfreude auf die Kingsleys hoch. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen schlief ich ein und holte ein bisschen von dem Schlaf nach, den ich diese Nacht versäumt hatte.


,,Mia, wach auf. Wir sind gleich da.", sagte Taze sanft und rüttelte leicht an meiner Schulter, um mich aufzuwecken. Verschlafen murmelte ich eine unverständliche Antwort, während ich meine Augen öffnete. Keine 2 Sekunden nachdem ich es tatsächlich fertig gebracht hatte, meine Augen zu öffnen, spürte ich das flaue Gefühl, das sich immer im Magen ausbreitete wenn ein Flieger in den Landeanflug überging. Ich kassierte mehrere abwertende Blicke von einer Familie, die in der Sitzreihe neben mir saß, als ich mich wie eine Irre an den Sessellehnen festkrallte.


Nachdem das Flugzeug gelandet und Taze und ich ausgestiegen waren, begann ich mich aufgrund des endlich wieder festen Boden unter meinen Füßen, zu entspannen. Innerhalb weniger Minuten war auch meine Übelkeit fast komplett verschwunden und als Taze und ich am Gate angekommen waren und nach seinem Kumpel Harvey Ausschau hielten, fühlte ich mich schon erheblich besser. Mein Bruder schien seinen besten Freund irgendwo in der Menge an Leuten, die ihre Angehörigen erwarteten, ausgemacht zu haben, denn nachdem ich einen Moment nicht hingesehen hatte, war er verschwunden. Genervt seufzte ich und mich auf die Zehenspitzen stellte, um einen Überblick zu bekommen. Gott sei Dank, dass ich mich nicht allzu lange zum Affen machen musste und Taze relativ schnell erspähte. Er kämpfte sich grob durch die Masse und hinterließ hinter sich einen kleinen Trampelpfad zwischen den einzelnen Menschen, auf dem ich ihm folgte und schnell zu ihm aufholte. Ich hatte Taze kaum eingeholt, als ich Harvey auch endlich mal zu Gesicht bekam. Breit grinsend stand er hinter einem Absperrband mit einer dieser schwarz- glänzenden Chauffeur-Mützen auf und einem kleinen Schild aus Pappe in der Hand. Auf dem Schild stand mit Edding Richie Rich geschrieben. Anhand der Tatsache, dass Harvey Taze des Öfteren so nannte, wie den überreichen Jungen aus dem Filmklassiker mit Macauley Culkin, obwohl er selbst nicht gerade von Armut und Geldmangel zu klagen hatte, konnte ich mir ein Lachen nur schwer verkneifen. Meinem Bruder schien es da nicht anders zu gehen. Lachend marschierte er auf seinen besten Freund zu und nahm ihn erstmal kräftig in den Arm. Ich trottete ihm etwas schüchtern hinterher. Ich mochte Harvey aber dennoch verhielt ich mich in seiner Anwesenheit immer etwas leiser als gewöhnlich. Eine Ursache für dieses doch sehr merkwürdige Phänomen war, dass ich früher mal wahnsinnig in ihn verknallt gewesen war. Diese Schwärmerei hatte aber auch mehr als nur einen guten Grund: Harvey sah zuallererst verboten gut aus, war irrsinnig komisch, sehr klug und außerdem viel älter und somit reifer. Zumindest hat das mein 14-jähriges Ich so empfunden. Heute, 4 Jahre später, fing ich an, an meiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln, wenn ich mir so anhören musste, zu was Harvey Taze brachte, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Ich stand etwa einen Meter von den beiden entfernt, als sie sich aus ihrer Umarmung lösten. ,,Na du Stecher, hattest du nen guten Flug?", fragte Harvey lachend. Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch, als ich den Spitznamen, den er meinem Bruder gerade gegeben hatte, hörte. Taze war doch kein 'Stecher'! Das wüsste ich ja wohl! Er war vielleicht beliebt bei den Frauen, aber sicherlich kein Playboy. Ich fragte mich, ob Taze wirklich immer der war, für den ich ihn hielt oder ob er eine Art Doppelleben führte, das sich mir bisher entzogen hatte. Taze lachte und schlug seinem Freund einmal herzhaft auf die Schulter. ,,Ja, alles bestens. Ich war besorgt, dass der Flug abgesa-", begann er zu erklären, aber Harvey fiel ihm ins Wort: ,,Scheiße, Alter! Was ist denn bitte mit deinem Gesicht passiert? Hast du dich etwa wieder geschlagen, oder was?" Taze drückte die Hand weg, die Harvey ausstreckte, um ihm scheinbar die Wange zu tätscheln. ,,Es ging um die Ehre einer jungen Lady. Da steck ich gerne mal was für ein.", sagte mein Bruder bescheiden. ,,Einer jungen Lady, die dann zweifelsohne später in deinem Bett gelandet ist, nehme ich an.", grinste Harvey verschmitzt. Mein Bruder grinste ähnlich dreckig zurück. ,,In meinem Wagen.", erklärte er schulterzuckend. Die beiden gaben sich einen High-Five und lachten. Ich wusste zwar, dass das eine grobe Lüge war, aber es war mir trotzdem ziemlich unangenehm, die beiden so reden zu hören, weil ich davon ausgehen musste, dass sie auch die Wahrheiten ihre Bettgeschichten betreffend so miteinander teilten. Fürchterlich macho-mäßig, aber mich ging das ja eigentlich nichts an. ,,Alter, ich muss dir was erzählen. Ich hab gestern mal wieder meinem Lieblingspub -da müssen wir die Tage übrigens unbedingt mal hin- einen Besuch abgestattet und da hab ich das schärfste Geschoss seit langem aufgegabelt. Die hättest du sehen müssen! Mindestens C-Körbchen, sooo ein Arsch, -". Das wurde mir langsam echt zu viel. Von Harveys Betthäschen wollte ich dann doch keine nähere Beschreibung. Also unterbrach ich ihn, indem ich mich vernehmlich räusperte. Das erregte die Aufmerksamkeit der beiden jungen Männer und sie drehten sich zu mir um. Taze hatte einen leichten rosanen Schimmer auf den Wangen, was mich vermuten ließ, dass es ihm ein bisschen peinlich war, wie sein bester Freund in meiner Gegenwart über Frauen sprach. Zurecht! Von einem elitären Cambridge-Studenten wie Harvey hatte ich eigentlich was anderes erwartet. Dieser schien sich jedoch keiner Schuld bewusst zu sein, sodass er mich einfach nur angrinste. ,,Mia!", sagte er herzlich ,,Du bist ja total erwachsen geworden! Du siehst super aus, ich hätte dich fast nicht wiedererkannt." Daraufhin schloss er auch mich in eine bärige Umarmung. Ich war von dieser doch sehr familiären Geste etwas überrumpelt, aber ich erwiderte sie dennoch. Trotzdem schoss mir ein Gedanke in den Kopf. ,,Hast du mich gerade rückblickend hässlich genannt?", fragte ich verwirrt. Harvey löste sich von mir. ,,Nein,nein! Ich meinte nur, dass ich dich nicht als Taze' Schwester erkannt hätte, weil ich nicht erwartet hatte, dass der Genpool der Gesichtsgrätsche hier neben mir, auch eine so schöne Mischung hervorbringen könnte.", erklärte er seine Aussage. Ich lächelte ihn an und scherzte schulternzuckend:,,Ich kann deine Überraschung verstehen, aber wie ist es nun mal? Ausnahmen bestätigen die Regel." Angesichts dessen lachte Harvey und schlug mir leicht gegen den Arm. ,,Schlagfertig bist du also auch. Sehr gut." Dann wendete er sich wieder meinem Bruder zu, während ich mir leicht den Oberarm rieb. Ich trottete hinter den beiden her und wir hatten kaum den Ausgang vom Flughafen erreicht als Harvey einmal in die Hände klatschte und sagte: ,,Ok, dann wollen wir euch mal Plymouth zeigen, nicht wahr?"


Love's a desperate thingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt