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Das Licht ging aus, als ich oben an der Treppenschwelle angekommen war. Dadurch erkannte ich den dünnen Lichtstreifen, der auf das Treppenhausgeländer fiel. Die Tür zu Alexanders Wohnung stand einen Spalt weit offen. Und nicht nur das, anscheinend brannte dort eine Lichtquelle. Entweder war er erst seit Kurzem weg oder jemand war in seiner Wohnung. Und diese Szene schrie geradezu nach Falle. Als erfahrene Ermittlerin wusste ich, dass ich hier nicht ohne Verstärkung reingehen oder zumindest meine Waffe ziehen sollte. Meine Finger juckten vorahnungsvoll. Aber ich dachte, wenn ich darin einer Überzahl gegenüberstand, würde meine Waffe mich nicht retten, sondern meine Schauspielkunst. Ich hoffte von ganzem Herzen, dass mein Plan so klappen würde. Von drinnen hörte ich hektische Schritte; jemand, der versuchte zu schleichen, um keine Geräusche zu verursachen. Das gelang ihm nicht sonderlich gut. Seine Jeans wetzten bei jedem Schritt aneinander. Außerdem waren sie zu lang. Bei jedem zweiten Schritt stolperte er fast über die ausgetretenen Ränder.
Ich presste mich also gegen die Treppenhauswand, während ich vorsichtig durch die Tür spähte. Als ich keine Bewegung im dunklen Raum dahinter wahrnahm, stieß ich die Tür etwas weiter auf. Die Lichtquelle war in der Küche, stellte ich fest, wahrscheinlich dort, wo er mich hinlocken wollte. Aus dem Augenwinkel nahm ich im Schatten am Kleiderschrank eine Bewegung wahr, aber ich tat so, als hätte ich nichts bemerkt. Meine Augen flogen in der Dunkelheit umher, konnten aber nichts Brauchbares entdecken. Ich wusste, ich wurde beobachtet, also wagte ich auch nicht, mein Handy aus meiner Tasche zu holen, um die Taschenlampe anzumachen. Ich war mir auf einmal allzu sehr jeder meiner Bewegungen bewusst, und fast automatisch schlugen meine Füße den Weg zur Küche ein.
Ein kleiner Schatten zog meine Aufmerksamkeit auf sich, der einem anderen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wäre. Aber mir fiel er sofort ins Auge. Skeptisch runzelte ich die Stirn. Also als Spione taugten diese Terroristen überhaupt nichts. Ein Glück, dass ich Spionin war. Lautlos bewegte ich mich über den Boden. Das Licht kam von der Beleuchtung über dem Herd. Vorsichtig versuchte ich, ein Blick in die Küche zu werfen, ehe ich in die Schussbahn lief.
In der Küche stand nur ein Stuhl. Skeptisch musterte ich ihn. Alles prickelte, sogar mein Körper schien die die Falle zu wittern.
Entgegen meines besseren Wissens tat ich zögerlich einige Schritte nach vorne.
Aber nichts geschah. Die Küche war leer. Aber ich konnte sie nicht näher inspizieren, da auf dem Tisch ein Kassenzettel lag, der mir sofort ins Auge fiel. Ich ging näher heran und las das Datum und die Uhrzeit. Es war das Datum des Mordes, etwa zehn Minuten vor dem Mord. Das hieß, ich musste überprüfen, wo genau der Supermarkt war, vielleicht hatte ich hier einen Beweis, dass Alexander nicht der Täter war. Vielleicht führte der Hinweis auch ins Leere. Der Supermarkt hatte bestimmt eine Überwachungskamera, die meine Theorie beweisen oder widerlegen würde. Ich schaute mich noch schnell um, ob ich auf die Schnelle noch einen Hinweis fand, aber ich sah nichts. Eilig drehte ich mich wieder um und aus dem Nichts wuchs auf einmal eine Person vor mir auf.
Mein Mund entließ einen verblüfften Laut, als ich unerwartet einen Kinnhaken kassierte und nach hinten stolperte. Ich fiel auf den Küchentisch und mir wurde kurz schwarz vor Augen. Aber schnell hatte ich mich wieder aufgerappelt und setzte zu einem Gegenschlag an. Jedoch kam von der Seite auf einmal ein weiterer Schlag in meine Rippen. Ich stöhnte laut auf und krümmte mich vor Schmerzen. Scheiße! Eine weitere wichtige Undercover-Lektion: Steige nie zweimal auf denselben Stier. Ich hatte echt alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Alles drehte sich und mir wurde auf einmal schlecht. Ich nahm meine Umwelt nur noch verschwommen wahr und der nächste Schlag beförderte mich endgültig ins K.O.

Als ich wieder zu mir kam, war ich an einen Stuhl gefesselt. Zuerst konnte ich mich nicht erinnern, wo ich war und was passiert war. Ich ließ meinen noch halb eingetrübten Blick durch den Raum schweifen, in der Hoffnung, Antworten zu finden. Schließlich blieb mein Blick an einem Mann hängen, der grinsend, aber reglos auf einen zweiten Stuhl genau vor mir saß.
"Schön", meinte er. "Du bist endlich wach."
Etwas verständnislos blinzelte ich, sagte aber nichts.
"Ich hatte gehofft, wenn du mich erkennst, würdest du etwas enthusiastischer reagieren, aber diesen Mangel an Emotionen schreibe ich dem Schlag auf den Hinterkopf zu." Er legte den Kopf schief und lächelte breit, aber falsch.
Da kam es mir auf einmal wieder: Dies war der Verdächtige, in den ich mich während vergangener Ermittlungen verliebt hatte! Ich war ihm so nahe gekommen, dass er wiederholt die Möglichkeit gehabt hatte, mich zu töten. Deshalb hatte Marc mich auch so angeschrien. Aber naja, vielleicht schaffte dieser kriminelle Schweinehund jetzt, was er schon so oft versucht hatte.
Ein hämisches Grinsen begrüßte mich, als ich wieder aufblickte. "Ich finde es schön, dass wir uns mal wieder sehen, Lillian", meinte er und fast konnte man meinen, dass er mich mit einem sanften Blick liebkoste, doch ich wusste es besser.
"Du elendes Miststück! Ich würde dich hier und jetzt töten, wenn ich könnte", presste ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und bedauerte in dem Moment, dass ich an einen Stuhl gefesselt war. Ich hätte diesen Dreckssack zu gerne eigenhändig in die tiefsten Abgründe der Hölle geschickt.
Mit einer fließenden Bewegung war er aufgestanden und kam zu mir, strich mir fast liebevoll meinen entblößten Hals entlang. "In deiner Situation würde ich mir nicht solche Bemerkungen erlauben."
Meine Zähne mahlten frustriert, während er mich umrundete. "Ich weiß sehr wohl, in welcher Situation ich mich befinde und bin selbst in der Lage zu beurteilen, wann ich mir was erlauben kann, aber danke für deine Besorgnis, Clay."
Mit einem dreckigen Grinsen setzte er sich wieder. "Noch immer die Alte, wie ich sehe und höre."
Ich fauchte nur ein paar Flüche in seine Richtung.
Er grinste weiter. "Deine Eigensinnigkeit ist eine Eigenschaft von dir, die mir gefehlt hat", fing er erneut an und sein Augenmerk wurde ernster, während er mich nun so intensiv musterte, als hätte er mich noch nie richtig gesehen.
"Du siehst angestrengt aus", erwiderte ich und ignorierte seinen Kommentar. "Schonmal über 'ne Brille nachgedacht? Hilft vielleicht."
Clayton lachte laut auf, als hätte ich gerade den Witz des Jahrhunderts gerissen. "Deinen Humor hast du also nicht verloren", meinte er und guckte ernster drein. "Das freut mich für dich, Lillian Evans."

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