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Ich kam wieder richtig zu mir, als es draußen schon stockduster war. Ich lag in meinem Bett, zugedeckt, und ein schwarzer Schatten saß auf meiner Couch. Meine Augenlider waren schwer wie Blei und mein Schädel dröhnte. Erschöpft stöhnte ich und wollte mich aufsetzen, als mir ein greller Schmerz direkt von meinen Unterarm bis ins Gehirn raste. Sofort zuckte ich zurück. Der Arm war dick bandagiert und ließ sich kaum schmerzfrei bewegen. Unter großer Anstrengung schaffte ich es schließlich, mich einigermaßen aufzurichten. Ich starrte die stumme, schattenhafte Gestalt an, die ich mittlerweile als Marc identifiziert hatte. Bewegungslos blickte er ins Dunkel, aber ich konnte seine gewitzten Augen blitzen sehen, als das Licht von Autoscheinwerfern durch die Vorhänge fiel.
Ich wusste nicht recht, wo ich anfangen sollte. Was sagte man in so einer Situation? Entschuldigung, dass du soviel Ärger mit mir hattest? „Wo ist Devan?", fragte ich ins stille Dunkel des Raums. Ich war einigermaßen ratlos.
Marc ließ sich Zeit mit der Antwort. „Er schläft sich in meinem Zimmer aus", antwortete er schließlich. „Er ist müde."
Ich nickte, auch wenn er das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. "Sie sicher auch."
"Ich lass' dich heute Nacht nicht allein, Lillian", erwiderte er schnell und entschlossen. Es war das erste Mal, dass er mich duzte. Aber in der Situation wäre ein 'Sie' auch distanzimplizierender gewesen als angebracht. Ich könnte mich vor den Kopf schlagen. "Er kommt mich nachher ablösen, wenn ich ihn anrufe."
Stumm stierte ich ins dunkle Zimmer. "Was ist passiert?"
Schweigen. Da ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich nicht, ob er nachdachte oder nicht antworten wollte.
Ich seufzte, und der Seufzer klang laut im stillen Raum. "Du musst nicht antworten, wenn es dir zu schwer fällt", fügte ich hinzu, um die grausame Stille zu verscheuchen.
"Du hattest getrunken", begann er zögerlich. Dann wieder eine Pause, die viel zu lang und zu vieldeutig war, um noch als Kunstpause bezeichnet zu werden. "Du... Hattest einen Zusammenbruch, mehr oder weniger. Hast dich..." Er holte tief Luft, als fiele es ihm schwer, es auszusprechen oder als würde ihn die Erinnerung schmerzen. "... selbstverletzt. Ich habe sofort den Rettungswagen gerufen. Die haben dich gleich versorgt. Ich habe sie überzeugt, dich nicht in die Geschlossene zu bringen, da du bereits in psychologischer Betreuung bist." Er holte tief Luft und entließ mit dem langen, lauten Ausatmen alle Anspannung der letzten Stunden in den kleinen Raum. Es war zuende. Es war alles gut. Vielleicht nicht gut, aber okay. Zu 'Gut' würden wir uns vorarbeiten.
Erneut stöhnte ich und griff mir an den Kopf. "So fühle ich mich auch", witzelte ich im Versuch, die Atmosphäre etwas aufzuheitern. Aber Marc lachte nicht, also verkniff ich es mir ebenfalls. "Danke", ergänzte ich noch leise und lächelte, dass ich nicht wieder in einer Klinik gelandet war. Das war eine Erfahrung gewesen, die ich nicht wiederholen musste.
Marc brummelte etwas, das nach Zustimmung klang.
„Könntest du heute Nacht hier bleiben?", bat ich und überraschte mich selbst mit dieser Bitte. Aber Marc reagierte sofort, sprang förmlich zu mir ans Bett und setzte sich, als hätte er die ganze Zeit auf diese Worte gewartet.
Er strich mir über meinen Arm und meine Haare und lächelte, aber er blieb still.
Zögerlich zog ich ihn mit mir in eine liegende Position. Ich seufzte und kuschelte mich an seine Brust. "Du bist so warm", seufzte ich, bevor ich wegdöste.
Ich spürte noch, wie er sich hinunter beugte und mir einen Kuss auf den Scheitel presste. Dann wurde alles schwarz. Wieder.

Plötzlich fand ich mich in einem Strudel aus Farben und Geräuschen wieder. Der Wind zerrte an meinen Klamotten, an meinen Armen und Beinen, an meinen Haaren. Alles wirbelte durcheinander und ich konnte nicht mehr klar sehen. Schließlich spuckte mich der Strudel aus und ich fiel auf den Boden. Alle Geräusche und Farben mündeten in einen klaren, hellen Ton.
Als ich die Augen aufschlug, blickte ich in die geschäftige Fußgängerzone einer Altstadt. Ich wusste nicht, wir lange ich hier gelegen hatte. Noch etwas verwirrt hob ich den Kopf. Die Stadt kannte ich nicht. Es erinnerte mich etwas an die Stadt, die ich als Kind oft besucht hatte, aber bei genauerem Hinsehen fand ich viele Unterschiede. Die Leute strömten in das Museum, und meine Neugier steuerte meine Beine auf den Eingang zu. An dem engen Torbogen staute es sich und es bildeten sich Menschenschlangen, an denen ich mich ungeduldig vorbei drängelte. Auf einmal hatte ich das drängende Gefühl, dass ich mich beeilen musste.
Komischerweise kam ich direkt in die Ausstellung, aber ich wunderte mich nicht sehr und lief weiter. Die Ausstellungsstücke, ein paar antike Tonvasen, befanden sich in einer großen, kreisrunden Halle. Es gab große Deckenfenster, durch die warmes Sonnenlicht fiel. Es war etwas wie in einem Barock-Schloss.
Ich irrte weiter durch die Gänge. Die Leute dünnten sich aus und das Sonnenlicht wurde durch kaltes Kunstlicht ersetzt. Die Artefakte wurden weniger und brutaler, teilweise Speere und Schwerter mit Blutanhaftungen oder auch eine rostige Axt, anscheinend verwendet für rituelle Opferungen. Aber ich verschwendete keine Zeit zur näheren Begutachtung der Objekte, sondern eilte achtlos schnell vorbei. Ich musste mich beeilen, obwohl ich nicht wusste, wohin ich gehen musste. Meine Füße trugen mich stetig voran. Die Beleuchtung wandelte sich in Kerzen an der Wand. Der Gang wurde zu einem Steingang, scheinbar aus dem Fels geschlagen. Schon lange war ich keinem anderen Menschen begegnet. Ein eisiger Wind blies mir entgegen, doch das störte mich nicht. Unbeirrt setzte ich meinen Weg fort. Der Wind bedeutete, dass der Tunnel nicht in einer Sackgasse, sondern im Freien endete. Ich roch schon das Meer.
Irgendwann kam ich zu einer sandigen Kuhle im Boden. Die Höhle öffnete sich hier etwas, bevor die Felsen den Himmel freigaben. Ich hörte Meeresrauschen und das gleichmäßige Klatschen der Wellen an die Felsen vor der Höhle.
Alles sah ganz friedlich aus, aber als ich wieder zu der Sandkuhle schaute, war dort eine dicke, frische Blutspur zu sehen. Vor mir aus dem hellen feinen Sand ragte ein Fuß. Auf einmal ekelte ich mich und wich zurück. Die Wände waren mit einer dickflüssigen Flüssigkeit überzogen, und erst als ich an sie stieß und den tiefen Rotton sah, ward ich mir gewahr, dass es sich um Blut handeln musste.
Ganz schnell war es düster geworden. Das Wetter vor der Höhle hatte umgeschlagen, als ich näher zum Ausgang lief. Es waren dicke, dunkle, regenschwere Wolken aufgezogen. Der Strand war verlassen. Nur etwas Treibholz lag einsam herum, während es von Gischt umspielt wurde. Es war ziemlich kalt geworden und Nebel zog auf. Aber der Nebel war überraschend warm, als ich meine Hand ausstreckte und neugierig das seltsam dicke, wabernde Weiß berührte. Aber plötzlich hörte ich ein Heulen. Wölfe, Coyoten. Wer wusste, welche Tiere sich bei Nacht an dem einsamen Strand umhertrieben. Eilig drehte ich mich um und wollte loslaufen, als ich merkte, dass es hinter mir bereits tiefste Nacht geworden war. Der Nebel hatte sich grau gefärbt und sah nicht einladend aus. Ich schoss herum, aber auch der andere Nebel war bereits grau. Erschrocken wimmerte ich vor mich hin und der einzige Fluchtweg war die Höhle. Drinnen war es noch finsterer als vorhin, glaubte ich. Ich hörte ein regelmäßiges Platschen, aber ich wusste, dass es das Blut an den Wänden war. Ich wollte wieder zurück in das Museum, in dem ich anfangs war, also rannte ich los. Aber es war dunkel, so dunkel, dass ich zögerte. Überall schienen Hände aus dem Dunkel zu erwachsen und griffen nach mir. Aber der wahre Feind war die Dunkelheit. Aus dem Gang vor mir schoss auf einmal Nebel auf mich zu und umfing mich.

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