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Marc hatte mich trotz allem nicht gemaßregelt, sondern überraschenderweise sogar gebrieft über die neuen Erkenntnisse in dem Fall. (Das machte mir ehrlich gesagt etwas Sorgen.)
Nun fühlte ich mich irgendwie schlecht, weil ich ihm meine eigens angestellten Ermittlungen verheimlicht hatte.
Gedankenverloren drehte ich die Notiz von Alexander zwischen meinen Fingern. Ich musste tiefer graben, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Aber ohne Hilfe konnte ich das kaum stemmen. Entschlossen nahm ich mir meinen Laptop zur Hand und öffnete die Dokumente, die mir zu dem Fall zur Verfügung standen. Ich schaute mir nochmal die Tatortfotos in beiden Fällen an. In beiden Fällen lagen die Leichen ähnlich, in beiden Fällen wurde ein Skalpel benutzt, ein einziger Einstich in der linken Brust, etwas unterhalb des Herzens. Das ließ darauf schließen, dass der Täter ein Profi war. Außerdem besagte der Autopsie-Bericht der D.C.-Leiche, dass der Täter vermutlich Linkshänder war, darauf wies der Einstichwinkel hin. Nachdenklich ließ ich den Kopf in den Nacken fallen.
Alexander war Rechtshänder. Aber das war nur ein Indiz, das danach schrie, weiterzusuchen.
Ich scannte die Bilder vom zweiten Tatort nochmal genauer. Mir fiel auf, dass Alexanders Werkzeug verteilt auf dem Boden lag. Ich bezweifelte, dass ein Hobby-Bastler sein Werkzeug achtlos auf den Boden warf und es einfach liegen ließ. Da sich an der Werkbank auch ein Kleiderhaken befand, schloss ich darauf, dass Alexander schnell seine Jacke von Haken gerissen hatte und dadurch das Werkzeug zum Boden gefallen war, ohne dass er sich die Mühe gemacht hatte, es wieder aufzuheben. Erschöpft schloss ich die Augen.
In dem Moment fielen durch die noch halb zugezogenen Vorhänge gedämpfte Sonnenstrahlen und tauchten das Zimmer in ein sanftes, gelbes Licht. Ich blinzelte und musterte nachdenklich die Vorhänge. Das versetzte mich wieder zurück in den Moment, als ich neben Alexanders Bett gekniet und das Sonnenlicht die Vorhänge erleuchtet hatte. Die Vorhänge waren also vorgezogen gewesen, ein Zeichen, dass er geplant hatte, das Haus zu verlassen. Leider brauchte ich eine Uhrzeit, wann er das Haus verlassen hatte, um eindeutig seine Unschuld beweisen zu können.
Seufzend stemmte ich mich hoch und watschelte in die Küche. Marc hatte mich nicht von meinem Vorhaben abhalten können, das hieß, dass mein Kühlschrank wieder gefüllt war. Im Moment hatte ich aber nicht viel Hunger und schnappte mir nur die Chips-Tüte, die zwischen Kühlschrank und Regal klemmte.
Ich warf mich auf mein Bett und öffnete Netflix auf meinem Laptop. Ja, auch Ermittler brauchten manchmal eine Pause! Ich suchte mir leichte Unterhaltung raus und riss die Chipstüte auf. Der Film startete und ich lehnte mich kauend zurück.

Der nächste Morgen sah schon anders aus: Marc hatte mir am Abend noch geschrieben, dass ich mich um zehn mit ihm bei Lou treffen soll. Gut gelaunt duschte ich und machte mich fertig, während ich eine Melodie summte, die ich seit Tagen als Ohrwurm hatte.
Heute war ich nicht joggen gewesen, sondern ich wollte mich einmal einigermaßen ausschlafen. Und soweit ich es beurteilen konnte, hatte es auch ganz gut geklappt.
Ich zog mir eilig eine Jeans und eine einfarbige Bluse an und wandte mich meiner Tasche zu. Ich packte meinen Dienstausweis ein und mein Portemonnaie. Meine Glock steckte ich in mein Holster an der Hüfte.
9:45 Uhr verließ ich das Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. Nach zehn Minuten Fußmarsch erreicht ich Lou und betrat die Wohnung.
Marc und Lou saßen vor den Bildschirmen und starrten mich an, als ich den Raum betrat und meine Jacke auszog.
"Guten Morgen", wünschte ich ihnen.
"Wir sind schon ein Weilchen wach, also entschuldigen Sie, dass wir Ihnen keinen guten Morgen wünschen", erwiderte Marc bissig.
Mit diesem Kommentar verpasste er meiner guten Laune einen gewaltigen Dämpfer und frustriert biss ich mir auf die Unterlippe. "Sie hätten mir auch einfach einen schönen Tag wünschen können."
Er rümpfte die Nase. "Einen wunderschönen Tag."
Ohne Erwiderung schmiss ich meine Tasche zu Boden und gesellte mich zu Lou. "Was gibt's?"
Lou wiegte ihren Kopf. "Mithilfe der bereits gesicherten Spuren habe ich versucht..." Marc warf ihr einen mahnenden Blick zu. "... mir Mühe gegeben, das Geschehen zu rekonstruieren."
Verwirrt kniff ich die Augen zusammen. "Geschehen? Du meinst die Flucht."
Lou nickte. "Unter anderem."
Ich räusperte mich und beugte mich über ihre Schulter. "Na dann zeig' mir mal, was du da produziert hast."
Lous zustimmender Mausklick ertönte, als sie die Nachstellung von Alexanders Flucht mit animierten Figuren startete.
Die Figur, die Alexander darstellen sollte, suchte etwas im Schrank zusammen und stopfte es in seinen Rucksack.
"Wir haben Spuren im Schrank gefunden, die darauf hindeuten, dass er noch eilig ein paar Sachen gepackt hat", kommentierte Marc das Geschehen. Er legte eine Hand auf meine Schulter und beugte sich ebenfalls hinunter, um einen guten Blick auf den Bildschirm zu haben.
Erschrocken von seiner plötzlichen Berührung sog ich die Luft ein. "Und was für Spuren sind das?"
Ich merkte, wie Marc mich von der Seite aus musterte, aber ich starrte weiter stumm geradeaus. "Der Schrank war durchwühlt."
Ich nickte und wandte endlich meinen Kopf. "Und die Kameras?"
Marc seufzte und schaute zu Lou. Sie seufzte ebenfalls und blickte mir in die Augen. "Er hat sie entdeckt und abgeschalten."
Überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen. "Alle?"
Lou nickte.
"Und die Wanzen?"
Lou zögerte und auch Marc hatte einen gequälten Gesichtsausdruck. "Guter Gedanke."
"Du könntest mithilfe einer  akustischen Analyse überprüfen, wohin er gegangen ist."
Marc klopfte mir anerkennend auf die Schulter. "Setzt euch da mal zusammen dran."

"Warum bist du so ungeduldig?", neckte ich Devan.
"Ich konnte es nicht abwarten, dein süßes Stimmchen zu hören."
Ich verdrehte die Augen. "Ja, natürlich."
Der Wind fuhr ums Mikro seines Handys und ich zuckte zusammen, als es durch meinen Lautsprecher laut knisterte und knackte. "Verdammt, wo bist du?"
Eine Pause entstand und ich hörte die Geräusche von einer Menschenmenge. "Hat dir Marc nicht Bescheid gesagt?"
Ich gestikulierte stumm, obwohl er das nicht sah. "Erleuchte mich."
"Ich bin am Flughafen." Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er auf die Anzeigetafel im Flughafengebäude blickte. "Um die Ermittlungen vor Ort zu unterstützen."
"Ahja."
"Freust du dich denn gar nicht auf mich?", fragte er mich und ich sah ihn vor mir, wie er bittend die Unterlippe nach unten rollte.
Ich holte tief Luft und schaute stöhnend gen Himmel. "Natürlich freue ich mich. Das Ganze kommt nur etwas unerwartet und ich kann Überraschungen nicht leiden, wie ihr wisst. Ihr hättet mir Bescheid geben sollen."
Devan sog die Luft ein. "Mir ist völlig entfallen, dass du neuerdings die Teamleiterin bist und Marc dich um Erlaubnis fragen muss."
Ich rollte mit den Augen, wusste genau, worauf er anspielte. "Du weißt, was ich meine."
Er lachte. "Jaja, schon klar, Baby."

Most wantedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt