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Als ich mich wieder aufrecht hinsetzte, war keine Spur der Tränen geblieben.
Alexander kam mit einer Flasche Wein wieder und schenkte uns beiden ein. Dann setzte er sich und ergriff die Schöpfkelle, ohne mich anzusehen.
"Du sagst, wie viel du möchtest." Und damit fing er an, mir eine volle Kelle nach der anderen auf den Teller zu geben.
"Das reicht", meinte ich nach der zweiten.
Verdutzt schaute er mich an und runzelte die Stirn, war aber schlau genug, den Mund zu halten.
Ich schluckte schwer, nickte dann, aber gleich darauf schüttelte ich wieder den Kopf und runzelte die Stirn. "Ich kann mir ja dann noch was nehmen, wenn ich nicht satt werden sollte."
Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und reichte mir meinen Teller. "Wie du meinst." Fast ärgerte mich sein Desinteresse, aber ich ließ mir nichts anmerken.
Er selbst schaufelte sich eine ordentliche Portion auf den Teller, fast bis zum Rand. Ohne auf mich zu warten oder mich auch nur anzusehen, fing er an, sich sein Essen löffelweise in den Mund zu schieben.
Mit hochgezogenen Augenbrauen wünschte ich ihm einen guten Appetit und fing selbst an zu essen, jedoch mit Messer und Gabel und deutlich langsamer.
Zwischen den Bissen nuschelte er mit vollem Mund etwas, das wie ein 'Danke' klang.
Skeptisch runzelte ich die Stirn, stierte auf meinen Teller und stocherte mit der Gabel im Essen herum. Plötzlich hatte ich überhaupt keinen Hunger mehr und ich spürte, wie Panik in mir hoch kroch. 'Nur keine Panik, alles gut, alles gut!' Auf einmal wurde mir schlecht und ich schaute auf zu Alexander, um ihn nach dem Bad zu fragen. Er war immer noch in sein Essen vertieft und schenkte mir gar keine Aufmerksamkeit.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, zwischen uns war gar nichts gut.

Als er nach dem Essen unsere dreckigen Teller weggeräumt hatte, blickte er das erste Mal auf und mich direkt an. "Ich hab' noch Eis zum Nachtisch."
Ich zwang mich zu einem Lächeln. "Klingt toll!"
Er erwiderte mein Lächeln. "Gleich fängt meine Lieblingsserie an. Setzen wir uns aufs Sofa?"
Ich nickte und gab mir Mühe, begeistert auszusehen. "Klar."

Unsere Geschmäcker im Bereich Fernsehsendungen harmonierten nicht wirklich. Er verfolgte mit interessierten Augen die Diskussion einer Talkshow.
Gelangweilt löffelte ich mein Erdbeer-Vanille-Eis, während Alexander mich verbissen ignorierte. Oder vielleicht war er auch so in "seine" Sendung vertieft, dass er alles und jeden um sich herum vergaß.
Mir fiel es schwer, der Diskussion zu folgen. Es war einfach alles so viel und so laut und alle redeten durcheinander. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass ich in Amerika aufgewachsen war und Deutsch nicht ganz so perfekt beherrschte wie Englisch. Außerdem wurde ich müde und konnte mich nur noch schwer konzentrieren.
Aber das war ganz gut, denn wenn ich nicht auf die Serie achtete, konnte ich genauso gut über mein weiteres Vorgehen bei meinem Auftrag nachdenken.
Als wir beide unsere Eisschälchen leer gekratzt hatten, sprang ich auf, ergriff ich diese flink und lief in die Küche. Klappernd stellte ich sie neben das Waschbecken und holte schnell mein blinkendes Handy hervor. Flink schickte ich eine kurze Nachricht an Marc. 'Rufe dich so schnell wie möglich an.'

Schnell eilte ich wieder zurück, bevor Alexander etwas merkte.
Er musterte mich nur von der Seite, als ich mich wieder setzte, sagte aber nichts. Allerdings konnte ich mir nur allzu gut vorstellen, was in seinem Kopf vorging, als er ihn wieder von mir wegdrehte und konzentriert auf den HD-Plasma-Bildschirm starrte.

Also tat ich es ihm gleich und dachte nach. Eigentlich hatte ich keine Lust, Marc anzurufen, aber wenn ich es nicht tat, würde er mich nicht mehr in Ruhe lassen, von dem Fall abziehen und außerdem möglicherweise mit Gehaltskürzungen strafen. Un das wollte ich auf keinen Fall riskieren. Ich überlegte, was ich ihm sagen könnte. Dass ich gerade ein sehr großes Problem hatte und nicht wusste, ob ich die Mission erfolgreich zu Ende bringen konnte, konnte ich ihm ja schlecht auf die Nase binden. Allerdings konnte ich ihm das auch nicht verheimlichen. Er war immerhin mein Boss.

Nach ein bisschen Hin- und Herüberlegen war ich immer noch zu keinerlei Entschluss gekommen. Erst, als es schon dunkel und Alexander's Talkshow zuende war, erwachte ich aus meiner Starre. Besser gesagt, ich wurde aus meiner Starre gerissen, und er blickte mich erwartungsvoll an.
Ich zwinkerte unschuldig und ein bisschen verschlafen. "Wie bitte?"
Er seufzte leicht genervt und holte tief Luft. "Hast du Lust, morgen nochmal bei mir vorbeizukommen?", fragte er erneut.
"J... ja, klar", beeilte ich mich zu antworten und blickte zur Decke. Ich zog die Augenbrauen hoch und ein Lächeln entsprang meinen Lippen. "Solange du mich nicht zu früh erwartest." Ich blickte ihn lächelnd an.
Er erwiderte meinen Blick. "Du gehst wohl früh immer joggen?"
Mein Lächeln wurde gezwungen und ich senkte schnell den Blick. "Ja, ja, das tue ich." Ich zog kritisch die Augenbrauen zusammen und ergänzte schnell: "Zumindest gebe ich mir Mühe, jeden Morgen eine kleine Runde zu joggen." Ich hob die Mundwinkel.
Alexander lächelte schwach und blickte kurz auf sein aufleuchtendes Handy. "Jedenfalls wäre es schön, wenn du morgen kurz vorbeischauen könntest. Vielleicht so gegen zehn."

Ich schmiss die Hotelzimmertür hinter mir zu und warf mich sogleich stöhnend aufs Bett. Das Gespräch mit Marc wollte ich noch hinauszögern, also schnappte ich meinen Laptop und fuhr ihn schnell hoch. Unruhig schweifte mein Blick ab zu der halbleeren Weinflasche auf meinem Nachttisch. Whoops, die hatte ich gestern wohl vergessen. Aber im Moment war ich dankbar für meine Vergesslichkeit, streckte den Arm nach dem Hals aus und nahm einige große Schlucke. Ungeduldig schaute ich kurz in mein Postfach und bemerkte, dass ich wieder einige E-Mails von Devan hatte. Er wollte per Skype mit mir sprechen. Auch dafür hatte ich aber im Moment keinen Nerv, also klappte ich den Laptop geräuschvoll zu und warf ihn auf die andere Seite des Bettes. Ich erhob mich und ging erstmal kalt duschen.

Danach stieg ich vorsichtig aus der Duschkabine und wickelte ein Handtuch um meinen nassen Körper. Ich föhnte mir noch ein paar Minuten meine Haare etwas trocken, bevor ich zu meinem Bett schlich und schnappte mir das Nachthemd. Ich ließ das Handtuch fallen und zog es mir über den Kopf. Mit zittrigen Händen und betont langsam wählte ich Marcs Nummer. Ich tippte seine Nummer ein, die ich mittlerweile auswendig konnte, obwohl ich ihn auch eingespeichert hatte.
Er hob schon nach zweimal Klingeln ab. "Evans. Wie schön, dass Sie sich mal melden."
Ich räusperte mich und ließ mir Zeit mit meiner Antwort, bevor ich ein leises "Ja" hervorpresste.
Es vergingen einige Sekunden und ein Rascheln ertönte in der Leitung, bevor er erneut etwas sagte. "Haben Sie schlechte Laune, Evans? Ist bei Ihnen alles gut?"
Mir schossen die Tränen in die Augen und schluckte die Traurigkeit hinunter. Wenn Marc Mitleid mit einem hatte, hatte man ein wirklich großes Problem. "Ja."
"Hören Sie, Evans", meinte er und es knackte kurz in der Leitung. "Ich verstehe, wenn Sie ein Problem haben, aber Sie müssen mit mir reden."
Ich schloss kurz die Augen und unterdrückte das Zittern meiner Unterlippe. Ich schwieg eine lange Zeit, und ich hörte, wie er tief Luft holte, aber er wartete weiter, bis ich etwas sagte. "Alles gut." Ich holte tief Luft. "Aber ehrlich gesagt... mit der Mission läuft es gerade nicht so gut. Ich bin allerdings gerade dabei, die Probleme aus der Welt zu räumen."
Ich hörte Marc seufzen und mein Herz sank. "Machen Sie sich keine Vorwürfe. Eine Undercover-Mission läuft meistens nicht genauso ab, wie man geplant hat."
Erschöpft schwieg ich eine Weile.
"Die Hauptsache, Evans, ist, dass es Ihnen gut geht. Aber verlieren Sie sich nicht in Selbstmitleid. Sie müssen konzentriert bleiben. Wir müssen ihn kriegen." Marc räusperte sich und zögerte, bevor er fortfuhr. "Ich reiße Ihnen nicht den Kopf ab, Evans, aber Sie müssen mit mir reden."
"Ja", erwiderte ich kleinlaut.
"Und übrigens, wenn Sie noch einmal meine Anrufe und Nachrichten ignorieren, dann feuere ich Sie."
Kurz verstummte ich und runzelte verwirrt die Stirn. "Gut zu wissen."
"Passen Sie auf sich auf, Evans", meinte Marc noch etwas leiser, bevor er auflegte.
"Mach' ich immer", antwortete ich schnell, bevor das Tuten erklang und ich das Handy von mir warf.

Ich war echt fertig heute und hatte ehrlich gesagt keine Lust, morgen früh aufzustehen und joggen zu gehen. Die Zeitverschiebung machte mir doch mehr zu schaffen, als ich gedacht hatte. Seufzend schnappte ich mir einen herumliegenden Schuh, schmiss ihn gegen den Lichtschalter und legte mich hin.

Most wantedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt