XXVII.

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Raphael stand auf dem Balkon von Magnus Loft und sah auf die Stadt Alicante hinunter. Inzwischen war es Abend geworden und die Sonne war schon halb hinter dem Horizont verschwunden. In dem goldgelben Licht erinnerten ihn die dicht beieinander stehenden Häuser und engen Straßen ein wenig an sein altes Zuhause in Mexiko. Ein trauriges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er an seine Brüder, seine kleine Schwester und seine Mamá denken musste. Mit einem Mal waren alle Geräusche und Gerüche wieder da und die Abendsonne stach ihm in den Augen. Seine Gedanken wurden jedoch unterbrochen, als er die Glastür hinter sich aufgehen hörte und kurz darauf Simons Geruch wahrnahm. Raphael ließ den Blick stur geradeaus gerichtet, während er seine Schritte näher kommen hörte.  ,,Hey." sagte Simon leise. ,,Wie geht's dir?" Raphael biss die Zähne zusammen. Er hasste diese Frage. Wie sollte es ihm schon gehen? ,,Den Umständen entsprechend." antwortete er schließlich.  ,,Und dir?" Simon blieb still, woraufhin Raphael sich irgendwann umdrehte und ihn ansah. Simons Blick war Richtung Boden gerichtet, doch man konnte deutlich die Tränen in seinen Augen glitzern sehen. Sofort schärften sich Raphaels Sinne wieder, doch er ignorierte es. ,,¿Qué pasa? Ist was passiert?" fragte er und kam einen Schritt näher. Simon hob den Blick, sah jedoch an Raphael vorbei, Richtung Himmel. ,,Ich glaub, ich hab was Blödes gemacht." sagte er. ,,Was? Was hast du gemacht?"  ,,Ich und Izzy haben uns gestritten." erklärte er. ,,Sie wurde zurück ins Institut gerufen, hat sich aber geweigert zu gehen. Sie meinte, wenn ich hier bleibe, bleibt sie auch. Ich hab ihr gesagt, sie soll gehen, aber sie... Sie wollte einfach nicht, bis . . ." Er brach ab, schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Raphael sah dabei zu, wie eine einzelne Träne Simons Wange hinab rann und wartete geduldig, bis der Jüngere sich gesammelt hatte, ehe er weiter sprach: ,, . . . bis ich ihr gesagt habe, dass ich mal 'ne Pause von ihr brauche. Dann ist sie wütend raus gerannt und meinte, ich solle mich die nächste Zeit nicht blicken lassen." Einen kurzen Augenblick war es still zwischen den Beiden.  ,,Simon..." setzte Raphael irgendwann an, wusste jedoch nicht, was er sagen sollte.  ,,Verdammte Scheiße!" rief der Jüngere plötzlich aus und ging zum Geländer des Balkons, worauf er sich mit beiden Händen abstützte. Raphael sah ihn überrumpelt an, unfähig, sich zu bewegen. ,,Warum muss immer alles schief gehen? Kann nicht einmal was glatt laufen?!" schnautzte Simon. ,,Mein ganzes Leben . . .! Mein Vater stirbt, meine Mutter wird Alkoholiker, ich werd süchtig nach Vampirgift und dann sterbe ich auch noch! Und als ob das nicht schon genug wäre, ist jede Beziehung, die ich je in meinem Leben geführt habe, den Bach runter gegangen! Und jetzt, wo ich dachte, ich hätte jemanden fürs Leben gefunden, muss ich's natürlich vermasseln." Simon starrte bitter auf die fast untergegangene Sonne, während Raphael keinen blassen Schimmer hatte, wie er reagieren sollte. Doch der Jüngere fasste das Schweigen anscheinend falsch auf, denn kurz darauf sagte er: ,,Entschuldige, falls ich dich verärgert haben sollte. Ich weiß, du hast selbst viel durchgemacht."  ,,Unsinn." erwiderte Raphael. ,,Du hast mich doch nicht verärgert, Simon." Der Latino machte einen Schritt nach vorne und legte sanft eine Hand auf den Rücken des Anderen. Simon drehte den Kopf und Raphael konnte sehen, wie er die Zähne zusammen biss und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Ohne Vorwarnung zog er den Älteren in eine stürmische Umarmung. Raphael stand einen Moment überrascht da, bevor er vorsichtig seine Arme um den Jungen legte. Nun hielt Simon nichts mehr zurück und weinte in Raphaels Schulter.

Als Raphael diesen Abend ins Bett ging, wusste er sofort, dass er diese Nacht nicht schlafen können würde. Er saß aufrecht auf dem Gästebett und starrte auf das goldene Kreuzchen in seiner Hand. Seine Mutter hatte es ihm geschenkt; es sollte ihn beschützen. Ein Klopfen an der Tür riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken.  ,,Herein." rief er und die Tür öffnete sich. Es war Magnus. ,,Hey, Raphael." sagte der Hexenmeister. ,,Ich hätte noch ein paar Fragen. Das heißt, wenn du dafür nicht zu müde bist, selbstverständlich."  ,,Ach was!" machte Raphael nur und deutete ihm gegenüber aufs Bett. Magnus setzte sich und stellte Raphael Fragen über seine Sinne, seinen Körper und sein Wohlbefinden. Wobei es bei dem Letzten eher um private Sorge ging, als um seine aktuelle Recherche. Ihr Gespräch wurde jedoch gestört, als die Tür aufging und Simon vorsichtig den Kopf ins Zimmer streckte. ,,Oh, entschuldige. I-Ich wollte nicht-"  ,,Ist schon gut." fiel Magnus ihm ins Wort. ,,Ich wollte gerade gehen." Mit einem 'Gute Nacht, ihr Zwei.' ging der Hexenmeister und schloss die Tür hinter sich. Etwas unbeholfen stand Simon neben der Tür, nicht fähig, dem Mann vor ihm in die Augen zu sehen. ,,Ich konnte nicht schlafen, also hab ich mir gedacht, ich schau, ob du noch wach bist..." murmelte er, den Blick noch immer auf den Boden geheftet. Raphael lächelte sanft. ,,Du weißt, dass du dich für nichts zu schämen brauchst, richtig?" Simon seufzte und hob kurz den Blick, senkte ihn dann jedoch wieder und erwiderte: ,,Ja, ich weiß. Es ist nur . . . Das vorhin auf dem Balkon . . und jetzt steh ich hier, weil ich nicht schlafen kann, wie ein kleines Kind . . . Und du . . Du wirkst so, als würde es dir nicht mal so viel ausmachen, diese ganzen Schmerzen und Gott weiß was noch, durchstehen zu müssen!" Raphaels Lächeln verschwand und sein Blick fiel erneut auf die Kette in seinen Händen. ,,Meine Mamá hat mir das Kreuz geschenkt." erklärte er leise. ,,Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich damals war. Aber ich hab es seitdem immer bei mir getragen. Immer. Wie ein kleiner Junge seinen Teddybären." Er sah auf und traf sofort auf Simons große braune Augen. ,,Jeder geht mit seiner Trauer anders um." sagte der Ältere dann. ,,Manche weinen, manche nicht. Dafür brauch man sich nicht zu schämen. Es ist menschlich. Und dass du jetzt hier stehst bedeutet nicht, dass du dich verhälst, wie ein kleines Kind. Es bedeutet, dass du kein gefühlsloses Monster bist." Einen Moment war es still in dem Raum, ehe Simon schließlich fragte: ,,Kann ich mich zu dir setzen?" Raphael schlug die Bettdecke zur Seite und lächelte. ,,Naturalmente."

In The ShadowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt