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Obwohl ich davongelaufen war, wartete ich ganz hinten an der Schlange, die vor der Turnhalle anstand. Meine Freunde schlichen träge heran, wie um meine Geduld zu testen.

Um mich herum drängelte sich Menschen. Bekannte Gesichter und unbekannte Gesichter, manchen konnte ich Namen zuordnen, bei anderen schwor ich, dass ich sie noch nie im Leben gesehen hatte. Und immer begleitete mich die Furcht, ich könnte gegen jemanden rempeln, dem ich auf keinen Fall begegnen wollte.

Dani rubbelte freundschaftlich über meinen Arm, als sie neben mich trat. Vielleicht eine Bestätigung, dass sie mir beistehen würde, oder eine Entschuldigung, weil sie mich dem aussetzte. Ich könnte jetzt sicher in Seattle sein und einen stressfreien Abend auf dem Sofa verbringen, wenn ich mich meiner beste Freundin nicht so verpflichtet fühlte. Also sollte sie zumindest einen Funken Anteil an meinem Unglück nehmen.

Wir schoben uns langsam auf den Eingang zu. Blumenranken, Marke Ramschladen, rahmten die Türen. Dahinter entdeckte ich denselben Kitsch, der vor 10 Jahren jedes Schulevent in dieser Turnhalle begleitet hatte. Quietschbunte Luftballons, Girlanden und Rosetten, in weiß-blau, den Schulfarben. Dazwischen hingen Banner, die mit DIY-Charme, nochmal darauf aufmerksam machten, warum wir uns heute hier trafen

„Wir feiern euch. Jahrgang 2011. Alte Freunde wieder treffen, neue Freundschaften gestalten. Für ein engeres Zusammensein in den nächsten 10 Jahren."

Nein, danke. Ich hatte alle Freundschaften, die ich brauchte, ohne dass ich im Restmüll meiner Schulzeit herumwühlte.

Aydin zupfte mich am Ärmel, grinste und deutete nicht ganz unauffällig auf eine Person etwas weiter vorne in der Reihe. Beige Jacke, schütteres Haar, überaus rundlich. Erst als der Fremde den Kopf drehte, um mit einem Mann, der neben ihm lief zu sprechen, erkannte ich Jamie.

Mit weit aufgerissen Augen blickte ich zurück zu meinen Freunden. Dani wirkte genauso verblüfft wie ich, doch Aydins Gesicht offenbarte die reinste Schadenfreude. Wir sprachen nicht über die Entdeckung, um nicht öffentlich zu lästern, doch sie ließ einen Funken Hoffnung in mir aufkeimen.

Wir drei hatten uns in den letzte zehn Jahren nicht übermäßig stark verändert. Natürlich trugen wir mehr Reife und weniger Babyspeck in den Gesichtern, hatten die Haare länger oder kürzer und kleideten uns mehr der neuen Zeit entsprechen, aber wir erkannte uns selbst noch als die Jugendlichen von damals wieder. Dasselbe Konzept hatte ich wie selbstverständlich auf meine Mitschüler angewandt. Stattdessen entdeckte ich im Moment die Narben, die ein Jahrzehnt hinterlassen konnte. Sicher nicht an jedem der Besucher des Treffens. Einigen waren aufgeblüht und strahlten so sehr, dass ich sie kaum wiedererkannte. Aber die Cheerleader und Footballspieler schien die Zeit besonders hart verprügelt zu haben.

Warum sollte ich also davon ausgehen, dass Heaven besser abgeschnitten hatte? Zwar versuchte ich nicht zu oberflächlich an dieses Aufeinandertreffen heranzugehen, aber es konnte mir nur helfen, wenn Heaven ihren Charme und ihre Schönheit in der Vergangenheit zurückgelassen hatte. Ich schickte einen Blick über das Gewühl vor mir, auf der Suche nach einem dunklem Schopf, bis mir auffiel, dass ich vergebens nach einer dunkelhaarigen Frau suchte, die sich inzwischen vielleicht die Haare blond, oder rot, oder pink gefärbt hatte. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, wonach ich suchte.

Endlich standen wir ganz vorne in der Reihe, direkt vor der weit geöffneten Doppeltür zur Turnhalle. Der altbekannte Geruch nach Gummiboden, gemixt mit einem Hauch Schweiß schlug uns entgegen. Leise Musik dudelte über das Stimmengewirr der vielen Leute hinweg.

„Willkommen. Schön euch zu sehen.", begrüßte uns eine Frau mit blonden Bob. Die Stimme so überschwänglich und aufdringlich, wie ihr pinkes Kostüm.

Diesmal erkannte ich mein Gegenüber. Annelie Hahn, Jahrgangsstufensprecherin im letzten Schuljahr und von jeher Mitglied des Festkomitees. Sie sah genauso aus wie damals, nur stärker geschminkt.

„Poppy Hall, Aydin Matthew Rodriguez und Danielle Avens. Hier sind eure Umschläge. Geht doch bitte als erstes zur Fotowand und pinnt euch an. So können alte Freunde euch finden."

Ein Zwinkern und sie hakte uns auf der Liste auf ihrem Klemmbrett ab. Mein höfliches Lächeln gefror. Niemand sollte mich finden.

„Ich wünsch euch einen wunderschönen Abend ihr Lieben. Und vergesst nicht: alte Freunde wieder treffen, neue Freundschaften gestalten."

Ihre fröhliche Begrüßung verstörte mich genug, dass ich wortlos den rosa Umschlag, den Annelie mir in die Hand drückte, entgegennahm und ohne Ziel in die Turnhalle hineinwanderte, nur um aus ihrem Schussfeld zu kommen. Ihr euphorischer Ton, mit dem sie die nächsten Besucher begrüßte, begleitete mich auf meiner Flucht.

„Wieso kann die unsere Namen? Habt ihr einmal mit der gesprochen zu Schulzeiten.", motzte Aydin hinter mir und sprach mir damit direkt aus der Seele. Dani hielt mich am Arm fest, damit ich stehen blieb.

„Annelie nimmt ihre Aufgabe als altes Mitglied des Festkomitees scheinbar immer noch wahnsinnig ernst. Sie hat sicher alle Namen im Jahrbuch gebüffelt. Ich war mit ihr im Mathekurs. Sie ist anstrengend, aber eine Süße. Ich weiß, ihr Auftritt ist ein bisschen viel."

Ich hörte Dani nur mit einem Ohr zu, während ich meinen Blick durch die Turnhalle schweifen ließ.

Mein Blick blieb an übermäßig dekorierten Trennwänden hängen, die meine Sicht versperrten. Jemand hatte die glorreiche Idee umgesetzt, den Saal durch Trennwände in Bereiche einzuteilen. Einer mit Esstischen, vorne mit Bühne, eine freie Fläche, vermutlich zum Tanzen und ein Bereich, den ich nach genauerer Betrachtung als Nostalgieecke betitelte. Dort entdeckte ich durch einen Spalt, die Fotowand, auf die uns Annelie hingewiesen hatte. Auf den Rosetten in babypink und hellblau, hatten bereits einige Gäste ihr Foto angepinnt. Frauen brav auf rosa, Männer heldenmutig auf blau.

Heaven sprang mir auf meinem Rundumblick durch die Halle nichts ins Auge, nur ein paar der anderen ehemaligen Cheerleader standen in einer Gruppe zusammen. Ein paar davon genauso hübsch wie damals. So eine Enttäuschung. Vielleicht würde mir das Treffen mit Heaven ohnehin erspart bleiben, weil sie ihren alten Heterofreunden nicht viel abgewinnen konnte und deshalb lieber zu Hause blieb. Bei ihrer...Freundin. Seltsamer Gedanke.

„Kommt lasst uns die Fotos anpinnen. So finden wir auch raus, wer alles bereits da ist."

Mit vor Aufregung roten Backen, zog mich Dani in Richtung Nostalgieecke. Sie plante eindeutig diesen Abend als Musterschülerin zu bestehen.

Aydin pinnte sein Foto auf rosa, ich meines auf blau und Dani sortierte alles mit strengen Blick auf die ausgewiesenen Geschlechterfarben. Nicht das Dani sonst viel auf Geschlechterrollen gab, aber sie befolgte gerne Regeln. Ein Mädchen steckte uns Anhänger mit Namen und demselben Jugendfoto an, das wir an die Wand gepinnt hatte. Damit jeder uns erkennen konnte. Alles passierte zu schnell. Ich kam nicht mehr dazu zu entscheiden, ob ich überhaupt erkannt werden wollte, denn Aydin trat neben mich und sagte:

„Schau mal da. Die Lady ist bereits im Hause."

Dann tippte er auf eines der Bilder und ich erstarrte innerlich. Mindestens neun Jahre hatte ich keinen Blick mehr auf ein Foto geworfen, das Heaven zeigte. Obwohl Erinnerungen dazu neigten, die Wirklichkeit zu schönen, spiegelte mir das Bild exakt jenes wundervolle Mädchen wider, das nachts manchmal durch meine Träume hüpfte. Und ihre Augen leuchteten ebenso hell. Eine Cheerleaderin mit strahlend, falschem Lächeln, ihr grellroter Lippenstift weckte Erinnerungen, die ich auf der Stelle verdrängte.

Oh Bitte. Heaven musste genau das Gegenteil von diesem Foto sein. Verbraucht und verbittert, am besten tröge und langweilig wie Raufasertapete. Wenn sie alles verloren hatte, was ich je an ihr geliebt hatte, lief ich keine Gefahr, mit meinen alten Gefühle rangeln zu müssen.

Allein der Blick auf ihr Foto raubte mir die Nerven. Das Original wollte ich gar nicht sehen.

Hey Poppy  (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt