Langsam schlich der Zeitpunkt heran, den ich fürchtete. Ein weiterer vieler Zeitpunkte, die mich den Vormittag über in Verzweiflung gestürzt hatten. Nur dieser kam gepaart mit einer Mischung ambivalenter Gefühle, die durch meine Körper wüteten, als hätten sie mir den Krieg erklärt. Dem Chaos schutzlos ausgeliefert, versuchte ich mein Bestes mich davon abzulenken. Ich packte meine Badetasche mehrfach neu und entschied mich dabei jeweils für andere Handtücher. Obwohl es keine Rolle spielte, welches ich mitnahm. Ob Blumenmuster, oder Streifen, am Ende erfüllten sie alle denselben Zweck.
Dann wechselte ich zwischen den Bikinis, die ich aus Seattle mitgebracht hatte, hin und her. Nicht das einer davon mehr oder weniger Sex-Appeal besaß. Beide bedeckten großzügig, was bedeckt werden musste, und besaßen beinah dieselbe Farbe. Aber als ich mich kritisch im dunkelgrünen Modell, mit schlichter Spitze und dekorativen Holzperlen, begutachtete, fiel mir ein grundlegendes Problem auf. Schwimmen gehen, bedeutete ich würde mich Heaven im Bikini zeigen müssen. Und ich würde sie in ihrer Badekleidung sehen. Sicherlich würde sie sich nicht im weiten Jogginganzug in die Fluten stürzen. Es fiel mir schon schwer, nicht in lustvolle Gedanken zu verfallen, wenn sie mir in Jeans und T-Shirt begegnete. Heute würden wir uns halbnackt gegenüberstehen.
Welcher Idiot hatte mich dazu verleitet, mit ihr an den See zu fahren?
„Ich krieg das hin. Ich kann das. Ich kann das. Ich kann das.", murmelte ich und begutachtete mich im Spiegel. Ein Mantra für mentale Stärke. Meine einzige Option, denn nur ich selbst besaß die Kontrolle über meine Triebe.
Ich legte mir die Hände auf den flachen Bauch und überflog kurz alle Reize, die ich zu bieten hatte. In den letzten 10 Jahren hatte ich gelernt, dass ich Frauen gefiel. Es hatte sich für mich, nach dem Desaster mit Heaven, nie als besonders schwer erwiesen, Frauen zu finden, die mit mir auf Dates gehen wollten. Lesben sahen mich als guten Fang, und ich blieb nie lange Single. Heavens Aussage, dass ich süß war, hatte ich nicht zum ersten Mal gehört. Aus ihrem Mund wog das Kompliment für mich dennoch schwerer. Alles klein reden änderte daran nichts.
Nachdem ich zu viel Zeit damit verbracht hatte, mich im Spiegel anzuschauen und dabei an Heaven zu denken, cremte ich mich zwei Mal mit Sonnencreme ein. Gründlich von Kopf bis Fuß, ohne eine Stelle zu vergessen. Dabei versuchte ich an nichts anderes zu denken als das Gefühl der Creme auf meiner Haut. Immerhin schuf ich eine wichtige Schutzbarriere gegen die fiesen Sonnenstrahlen, die heute von einem strahlend blauen Himmel herunterbrannten. Eine Aufgabe, die meine Aufmerksamkeit jedoch nicht gründlich genug fesseln konnte. Trotz meiner Versuche mich abzulenken, wanderte meine Kopf ständig zurück zu den wirklich interessanten Themen. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ins Leere starrte, während die Creme auf meinen Händen trocknete.
Dann dachte ich an Heaven, die mit ihrer Wettervorhersage Gold richtig gelegen hatte. Vermutlich besaß sie eine Wetter App und nutzte sie täglich. Sie schien sich sehr für die verschiedenen Wetterlagen zu interessieren.
Und ich rief mir die Telefongespräche in den Kopf, dich ich sowohl mit Ashley als auch Dani geführt hatte. In meiner Rolle der liebevollen Partnerin und besten Freundin, die ich schrecklich ausfüllte, weil ich nur Lügen erzählte, um allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Die widerlichste Spezies Mensch. Seit wann war ich so verkommen?
Ashley hatte ich nur reden lassen. Sie befand sich auf Geschäftsreise in Vancouver und erzählte mir begeistert vom Bar Hopping des Vorabends. Der Anruf endete rasch, weil ein Kollege ihr die Stadt zeigen wollte. Ich kannte ihn nicht, aber schenkte ihm im Stillen meine gesamte Dankbarkeit.
Beim Telefongespräch mit Ashley, plagte mich mein massives schlechtes Gewissen. Wenn ich ihre Stimme hörte, schlug mein Herz schneller und mir wurde klar, wie sehr ich sie liebte. Ich bemerkte die ganzen wunderbaren Gründe, warum ich sie allein gewählt hatte. Kaum endete das Gespräch, wachte ich in einer Welt auf, in der ich mich selbst nicht mehr kannte. Die Poppy, die vor ein paar Tagen aus Seattle hergekommen war, verschwand ins nichts. Zurück blieb ich. Verwirrt. Ein Mensch mit schlechtem Charakter. Jemand der seine Freundin betrog und alle belog, um den Status Quo aufrecht zu erhalten. Und jemand der alle Schwierigkeiten verdrängte, nur um weiterhin etwas hinterher zu jagen, dass noch nie hatte sein sollen. Manchmal fragte ich mich, ob ich mich danach sehnte, mein Leben in Scherben zu sehen, weil ich die trügerische Sicherheit an Ashleys Seite nicht aushalten konnte.
Auch Dani hatte ich eiskalt darüber angelogen, warum ich heute keine Zeit hatte Aydin zu besuchen. Doch ich schwor mir, es war alles nur auf Zeit. Ich würde allen die Wahrheit beichten. Nur nicht heute. Nicht für diese paar kostbaren Stunden, die ich mir borgte.
Ich log nur noch ein bisschen länger, denn Heaven würde jeden Augenblick an meiner Tür klingeln.
Ein greller Ton schallte durch das Haus. Ich schreckte von dem Handyspiel auf, mit dem ich versucht hatte, meine Gedanken in Fesseln zu legen. Fröhliche Musik dudelte weiter und bunte Bälle blinkten, bereit dazu, abgeschossen zu werden.
Bevor Heaven ein zweites Mal auf den Klingelknopf drücken konnte, stolperte ich, die Badetasche über der Schulter, die Treppe hinunter. Meine Eltern waren zum Glück ausgegangen. So bekam niemand mit, wer mich abholte.
Ich öffnete die Tür. Da stand sie, im lockeren, blau gestreiften Sommerkleid, das Haar zum hohen Pferdeschwanz gebunden. Beinah wie früher, nur mit dickem Zopfgummi, anstatt hellblauer Schleife. Heaven trug eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase und ein Lächeln auf den Lippen.
„Hey Poppy.", begrüßte sie mich und nahm die Sonnenbrille ab. Ihre grünen Augen strahlten im hellen Tageslicht. Wieso sah sie so verdammt gut aus? Das machte mich fertig.
„Hey. Warte. Ich zieh noch Schuhe an."
Ich riss den Blick von ihr und wandte mich zur Garderobe. Ihr Anblick erinnerte mich wieder daran, dass dieses Treffen ein Fehler war. Mir blieb nicht die Zeit ausreichend zu bereuen. Außer ich hätte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Doch das brachte ich nicht übers Herz. Ich fühlte meine Enttäuschung bereits aufwallen, als mir die Idee nur durch den Kopf geisterte.
Mit den schwarzen Flipflops an den Füßen, passend zu meinen Shorts, watschelte ich zur Tür.
Heaven lehnte am Türrahmen. Als ich vor ihr stehen blieb, zupfte sie am Saum meines weißen T-Shirts, auf dem ein Eichhörnchen eine Nuss knabberte.
„Süß.", hauchte sie.
Ich starrte sie perplex an. Sie grinste und strich den Finger über meinen Bauch. Kurz genug, dass ich überhaupt nicht auf die Berührung reagieren konnte.
Ihr Rock schwebte elegant um ihre Beine, als sie sich umdrehte und die zwei Stufen von der Veranda hinunter schritt. Ihr Zopf hüpfte frech. Im Gegensatz zu früher, endete er an ihrem Nacken. Doch noch immer drehte er sich am Ende in ein paar Locken. Und noch immer wollte ich meine Finger hineinstecken.
Um meine Hände von all dem abzuhalten, was nicht sein durfte, rammte ich sie in meine Hosentaschen. Ich wanderte hinter Heaven den mit Steinplatten geflieste Weg entlang, zu ihrem Auto, das direkt vor unserem Haus parkte. Es strahlte tiefrot in der Sonne.
Ein lautes Klicken ertönte, als Heaven den Türöffner betätigte. Sie wartete nicht auf mich und stieg auf der Fahrerseite in den Wagen.
Für einen Moment zögerte ich, weil mich das Gefühl beschlich, als träfe ich gerade eben die letzte Entscheidung, für oder gegen mein altes Leben. Als würde alles wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, sobald ich in das Auto einstieg.
Alles zuvor war vielleicht noch zu entschuldigen. Zu viel Alkohol, ein zufälliges Treffen im Supermarkt und der Versuch freundlich zu sein. Aber jetzt machte ich mir nichts vor. Es war keine kluge Entscheidung, sich weiterhin mit Heaven zu treffen. Und dennoch stieg ich in das Auto. Denn auf mir lag ein Zauber, der mich dazu verführte, dumm zu sein. Der mir das größte Glück der Welt versprach, wenn ich diese alte Liebe nur noch einmal spüren durfte.
Der Zauber meiner Jugend hielt mich im Würgegriff, den diese Stadt und diese Frau in mir heraufbeschwor.
Es gab keine Entschuldigung und es gab auch kein Entrinnen.
Die Poppy meiner Jugend war entkommen und hielt die Zügel fest in der Hand.
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Hey Poppy (girlxgirl)
RomansaFortsetzung von Hey Heaven. Das Cover ist von @Clove Mikaelson