Chapter 1

163 17 1
                                    

Ich kniff die Augen zu. Ich wollte nicht aufwachen. Wenn ich schlief, musste ich mich nicht mit den Problemen der Realität auseinandersetzen, die mich Tag für Tag erwarteten.

Doch im nächsten Moment sagte eine Stimme neben mir: „Ich weiß, dass du wach bist!"

Ich drehte den Kopf in die Richtung aus der die Stimme kam und sah einen Jungen.

Jago. Nummer J357.

Er lag, genau wie ich, in einer Röhre, aus der er nicht raus kam. Wir leben in ihnen. Mit wir meine ich nicht nur Jago und mich, sondern auch alle anderen Kinder, die von Kepler22 entführt und zu Monstern gemacht wurden. Kepler22 ist ein Labor. Niemand kennt es. Niemand ahnt davon. Es verändert uns genetisch, sodass wir besondere Fähigkeiten erlangen, die die Welt besser machen sollen.

Von wegen!

Wir liegen in unseren Glasröhren, die gerade so groß sind, dass man nicht mit der Nasenspitze oben anstößt. Die Röhren liegen wiederum alle in kleinen Zweierzimmern, die in einer riesigen, mehrstöckigen Halle gebaut sind. Ich fragte mich, wieso sich noch niemand gefragt hatte, was in dieser Halle vor sich ging. Ich hatte keine Ahnung, wo sie sich befand.

In diesem Moment sah ich ein kleines, etwa neun Jahre altes, Mädchen, die auf einer Liege lag und gerade in den Raum gegenüber von mir geschoben wurde. Die Nummer auf ihrer Seite war: H474.

In mir begann eine unbändige Wut zu brodeln, denn uns beiden war klar, dass dieses Mädchen gerade entführt worden war. Jago zischte: „Diese Mistkerle!"

Bei Kepler22 gab es, neben allen möglichen Wissenschaftlern und Ärzten, auch die Sucher. Die Sucher schleusten sich in Kindergärten oder Schulen ein und beobachteten die Kinder, die sie für geeignet hielten. Wenn sie fanden, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, entführten sie diese Kinder und brachten sie hier her.

Als ich acht Jahre alt gewesen war, hatte mich mein Klassenlehrer entführt. Ich hatte ihm schon immer misstraut, doch zu diesem Zeitpunkt war ich noch klein und naiv gewesen und hatte mir nichts dabei gedacht, als er mir irgendwann im Dezember angeboten hatte, mich nach Hause zu begleiten. Ich war damals in der Nachmittagsbetreuung gewesen und als ich nach Hause gehen durfte, war es schon dunkel, weshalb ich dieses Angebot angenommen hatte. Als wir dann in den Menschenleeren Park gekommen waren, hatte er plötzlich eine Spritze mit Eisblauer Flüssigkeit heraus geholt  und sie mir in die Halsschlagader gejagt.

Und dann war ich hier aufgewacht, als jemand anderes. Hier war ich nicht mehr Alaska. Hier war ich kein kleines Mädchen mehr, dass riesige Angst hatte. Hier war ein ein Experiment. Ein Experiment mit der Nummer A394.

Ja, hier war ich nicht mehr Wert als eine Nummer.

Plötzlich zuckte ich zusammen. Das kleine Mädchen stieß einen Schrei aus. Einen gellenden Angstschrei, der mir fast das Bewusstsein raubte.

Ich war kein Mensch mehr. Ich war etwas anderes: Ein Mutant.

Kurz nach meiner Entführung hatte man mir ST-DNA gespritzt. ST bedeutet Schneetiger. Und da Katzen ziemlich empfindliche Ohren haben, platzte mir bei diesem Schrei fast das Trommelfell.

Ich zitterte am ganzen Körper. „Alles gut...", flüsterte ich in Jago's Richtung. Die Augen machte ich wieder zu. Trotzdem spürte ich seinen besorgten Blick auf mir.

„357 ist wach, ebenso wie 394.", hörte ich jedoch im nächsten Moment die Stimme eines Wissenschaftlers.

„Gut, 357 kommt in Raum 5, 394 in Raum 10.", antwortete ihm eine andere Stimme.

Ich öffnete meine Augen wieder und warf Jago einen Blick zu, der all meine Panik widerspiegelte. Raum 10  war nicht nur irgendein Raum, es war der Raum, in dem sie mich zu dem gemacht hatten, das ich jetzt bin.

Jago schien mich beruhigen zu wollen, doch da wurde ich bereits aus dem Raum geschoben. In Raum 10 öffnete sich der gewölbte Glasteil meiner Röhre und ehe ich reagieren konnte, war ich an einen Stuhl gefesselt, der ein wenig wie die Stühle beim Zahnarzt aussah. Nur unangenehmer.

„394, wie fühlst du dich?", fragte eine Frau im weißen Kittel mich lächelnd.

Wieso lächelte sie? Wieso fragte sie mich, wie ich mich fühlte, obwohl sie sich ganz genau vorstellen konnte, wie ich mich fühlen musste.

Ich biss die Zähne zusammen. In all den Jahren, in denen ich nun hier war, hatte ich mit niemandem außer Jago gesprochen und das würde sich auch nicht ändern.

„Du brauchst keine Angst zu haben, wir nehmen dir nur ein bisschen Blut ab." Sie lächelte schon wieder. Wenn sie wüsste, dass ich sie mit einem Biss töten könnte, würde sie nicht mehr lächeln. Vielleicht wusste sie es ja sogar, immerhin war sie diejenige gewesen, die verordnet hatte, mir ST-DNA zu spritzen.

Ich merkte kaum, wie mir jemand mit der Spritze in den Arm stach, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meine Wut unter Kontrolle zu halten. Wenn ich ausrastete, dann würde man mich wegsperren oder, was viel wahrscheinlicher war, umbringen.

Schon oft hatten Jago und ich beobachtet, wie Kinder ausgerastet und danach in irgendeinen Raum gebracht worden waren. Wir hatten sie nie wieder gesehen, von daher gingen wir stark davon aus, dass man diese Kinder einfach umgebracht hatte.

Kepler22 kannte kein schlechtes Gewissen! Wie denn auch, so ganz ohne Herz und Gefühle?

Irgendjemand sperrte mich wieder in meine Röhre und schob mich zurück. In mir brodelte es immer noch. Wenn ich dieses Zeitbombenproblem nicht in den Griff bekam, konnte das wahnsinnig schlimme Folgen haben.

In all den Jahren, die ich nun schon hier verbracht hatte, hatte ich mich irgendwann daran gewöhnt, dass es um mich herum piepte, schrillte, knarzte und wuselte. Solange es nicht zu laut wurde, konnte ich die Geräusche ganz gut ausblenden.

Das die Wissenschaftler, die gerade in einem der Laborräume mein Blut untersuchten, bei dem Ergebnis auf einmal totenblass wurden, bekam ich nicht mit. Genauso wenig, wie irgendjemand befahl, morgen mit dem Umzug zu beginnen.

Mein Blickfeld wurde immer dunkler, dann versank ich im Land der Träume.

Alaska︱✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt