Chapter 4

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Die Jahre vergingen und wir bekamen keine Menschenseele mehr zu sehen. Das Essen wurde uns dreimal pro Tag durch einen Greifarm aus der Decke der Röhre gegeben und es schmeckte scheußlich. 

Wir hatten keine Ahnung, wie lange wir jetzt schon hier unten waren, denn irgendwann hatten wir aufgehört zu zählen, doch ich schätze mal, es sind zwei Jahre vergangen. Wenn das stimmt, dann bin ich mittlerweile 14 Jahre alt. Jago wäre 16. Ohne ihn, währe ich vermutlich verrückt geworden. Aber mit ihm kann ich reden, egal über was, denn erhört mir zu, in jeder Situation.

Das einzige was uns zeigt, dass wir nicht in Vergessenheit geraden sind, sind die drei kleinen Kameras, die alle auf unsere Röhre gerichtet sind.

In diesem Moment gähnte Jago herzhaft und fuhr sich verschlafen über seine grünen Augen. 

„Morgen Schneewittchen...", murmelte er. Ich boxte ihm leicht gegen die Schulter, was ihn zum Grinsen brachte. Jago nannte mich öfters mal Schneewittchen, weil ich ihn irgendwie an sie erinnerte. Keine Ahnung wieso, denn im Gegensatz zu Schneewittchen hatte ich silbrigweiße Haare und eisblaue Augen. Das einzige, in dem wir uns ähnlich waren, war wohl unsere blasse, fast weiße Haut. 

„Morgen du Schlafmütze.", erwiderte ich. Dann flog ich fast auf die Nase, denn die dünne Matratze unter unseren Füßen, war zu einem Laufband geworden. 

Ich fauchte ungehalten und begann dann aber, zu laufen. Jago tat es mir gleich, auch wenn er aussah, als würde er gleich auf der Stelle einschlafen. Ich verkniff mir einen Kommentar und begnügte mich damit, demonstrativ in seine Richtung zu gähnen, wodurch ich mir ein Fauchen+Blick-auf-perfekte-weiße-Raubtierzähne einfing.

„Jetzt sei doch nicht so...", ich boxte ihm schmerzhaft gegen die Schulter, was Jago ins Wanken brachte. In diesem Moment wurde die Geschwindigkeit des Laufbandes erhört und er konnte sich nicht mehr auffangen. Mit voller Wucht krachte er gegen mich und wir flogen auf den Boden, was nicht so lustig ist, wenn das Band weiter läuft. 

„Ach shit!", fluchte ich. Schnell sprang Jago wieder auf die Beine und zog mich hoch. „Mehr fällt mir dazu gerade auch nicht ein."

Ich atmete erleichtert auf, als sich unter unteren Füßen wieder die Matratze bildete und ich mich erschöpft darauf fallen ließ. Dann begann ich haltlos zu lachen. Jago warf mir einen verstörten Blick zu, doch dadurch musste ich nur noch mehr lachen und schnappte nach Luft. „Oh man..." Ich wischte mir eine Lachkrämpfe aus dem Augenwinkel. „Ich glaube, so langsam werde ich echt verrückt!"

Von Jago kam nur ein zustimmendes Grummeln. 

„Ich habe-" Eigentlich wollte ich noch Hunger sagen, doch ich tat es nicht. Aufmerksam stand ich auf und konzentrierte meine Sinne auf das geschehen im oberen Teil der riesigen Halle von Kepler22. Irgendetwas ging da vor. Ich spürte Unruhe, Angst, Überforderung...

„Was ist da los?" Auch Jago richtete sich auf. 

„Ich... ich glaube, da oben geht gerade etwas gewaltig schief...", murmelte ich. Im geschlossenen Augen stand ich da und konzentrierte mich. 

Viele Schritte, die alle in eine Richtung liefen. Aufgeregte und Panische Menschen. Dann schnappte ich nach Luft. „Sie entkommen! Jago, die Kinder fliehen. Sie haben es geschafft, sich zu befreien!"

Er starrte mich nur an. „Was machen wir jetzt?"

Ich überlegte. Dann holte ich tief Luft. „Wir sind in eine Art Glasröhre gesperrt. Ich glaube nicht, dass es wirklich Glas ist, aber... bei niedrigen Temperaturen zerspringt Glas..."

Er verstand worauf ich hinaus wollte, denn er nickte. „Versuch es!"

Ich ließ die Temperaturen fallen. Glücklicherweise machte es Jago nichts aus, wenn ich meine Fähigkeiten nutzte, genauso wenig, wie seine Hitze mir etwas auszumachen schien. 

Das winzige Thermometer, das an der Decke der Röhre befestigt war, zeigte -15 Grad Celsius an. Sie sank immer weiter und es bildeten sich feine Risse in der dicken Scheibe. Vorsichtig legte ich meine Hände auf das Glas, oder was auch immer, und fror es ein. 

Dann zersprang es. 

In Milliarden kleine Teilchen. 

Unzählige Splitter zerstoben wie Schnee. 

Jago riss die Arme hoch und hielt sie schützend vor sein Gesicht. 

Ich stand reglos da. In einem Regen aus Glas und Eis. 

Das Glas flog um uns herum, es klirrte, als es auf dem Boden landete. Dann war alles still. Totenstill. 

Doch das änderte sich innerhalb von Sekunden. Schrillen begannen die Sirenen zu heulen. Gequält fauchend sackte ich auf den Boden und presste die Hände auf meine Ohren, während mir fast das Trommelfell zerriss. Der Ton schien immer wieder auf mein Gehirn einzustechen.

Sie wussten Bescheid. 

Sie wussten, dass auch hier unten etwas nicht stimmte. 

Uns blieb nicht viel Zeit.

Nur am Rande bekam ich mit, wie Jago sich zu mir herunter beugte. „Alaska!", schrie er. Ich wimmerte. „Alaska!"

Ich blickte auf. Vor Schmerz beinahe blind, versuchte ich, mich wieder auf zurichten. Jago stützte mich und ich hob wie in Zeitlupe die Hand. Die drei Kameras zersplitterten.

„Wir müssen hier weg! Sonst sterben wir!"

Das wusste ich. Ich richtete beide Hände auf die Stahltür. Jago tat es mir gleich. Dafür musste er mich allerdings loslassen und ich wankte, hielt mich aber auf den Beinen.

Jago begann, das Stahl zu schmelzen. Es wurde unglaublich heiß. Dann war ich dran. Ich konzentrierte mich, so gut es ging, und schoss einen Strahl aus spitzen Eis durch die Tür. Es bildete sich ein Loch, das gerade groß genug war, damit sich zwei dünne Kinder hindurch quetschen konnten. 

Jetzt war es ein Vorteil, dass Kepler22 uns nur so wenig Essen gegeben hatte, die drei Mahlzeiten waren winzig klein gewesen.

Schnell kühlte ich das Stahl wieder runter und schlängelte mich durch die Öffnung. Jago folgte. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Das schrillen Heulen hatte noch nicht nachgelassen. 

Natürlich nicht!

Sie wussten, dass sie damit zumindest mich ansatzweise unter Kontrolle halten könnten. Dann war es soweit. Nach zwei Jahren standen wir zehn schwer bewaffneten Männern gegenüber. Sie richteten ihre Waffen auf uns und schrieben sich Befehle zu. Dann verstummten sie. Im nächsten Moment schossen sie. Blitzschnell ließ ich eine dicke Eiswand um Jago und mich wachsen. Dumpf schlugen die Kugeln in das Eis ein, drangen aber nicht bis zu uns vor. 

Der Kugelhagen verstummte. Stattdessen hörten wir eine ruhige Stimme: „Wir wollen euch nicht verletzen!"

„Ach nein? Dieses ganze Geballere hat mir einen anderen Eindruck vermittelt!", brüllte Jago. 

Mein Gehirn ratterte. Vor Schmerzen konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten, doch ich musste durchhalten. Wenn nicht, gab es keinen Weg mehr in die Freiheit. Denn dann wäre ich tod! Dann tat ich etwas, was schlich und ergreifen dumm war: Ich ließ das Eis schmelzen! Jago sah mich entsetzt an. „Was machst du?", flüsterte er. Ich warf ihm ein trauriges Lächeln zu. 

„Vertrau mir!" 


Alaska︱✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt