Kapitel 42

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P.o.V. Keiji

"Müssen wir wirklich?", fragte Kōtarō. Sie standen vor der geschlossenen Tür des Elternschlafzimmers. Keiji wippte nervös mit dem Fuß, nicht weniger abgeneigt den Raum zu betreten als Kōtarō. "Bringen wir es hinter uns." Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und öffnete die Tür. Ein kühler Luftzug trug den Geruch des Meeres in den Raum. Es war alles so, wie sie es zurückgelassen hatten. Die rechte Schranktür war noch halb offen und knarzte leise im Wind, der durch das offengelassene Fenster hereinwehte und die Vorhänge wie geisterhafte Nebelschwaden tanzen ließ. Die aus dem Schrank gefallenen Anziehsachen lagen auf dem Boden verteilt. Keiji betrat den unheilvollen Ort zuerst. Er setzte einen Fuß vor den anderen, immer einen Fuß vor den anderen. "Keiji... warte auf mich." Kōtarō folgte dem Meermann stolpernd, als müsste er sich zu jedem Schritt zwingen. Keiji blieb neben dem Bett stehen, um auf ihn zu warten. Es brauchte einen Moment, bis sein Freund ihn erreichte. "Geht es?", fragte der Meermann leise nach. "Ja, ich denke schon. Es ist gut, dass das Fenster offen ist."
"Stimmt." Der frische Wind machte die angespannte Atmosphäre erträglicher, wenn auch das Ganze so realer wirkte. Kōtarō nahm Keijis Hand. Die vertraute Wärme an seiner Seite beruhigte das Wasserwesen. Tief atmete er durch. "Okay. Dann wollen wir mal!" Etwas entschlossener setzte er ihren Weg fort, Kōtarō im Schlepptau. Mit jedem Schritt wurde es schwerer, sich weiterzubewegen, als liefe man gegen einen starken Wind. Jedes Fünkchen Selbsterhaltung drängte Keiji zum Rückzug. Schließlich erreichten sie den Schrank. Mit dem Fuß schob Keiji die Kleidung zur Seite und legte ihnen einen Weg frei. Kōtarōs Griff wurde fester, Keiii hörte ihn auch mit den Zähnen knirschen. "Ko, wenn es zu schwer ist für dich-"
"Es geht schon! Ich schaffe das."
"Okay. Aber zwinge dich nicht dazu." Was eine dumme Aussage. Dabei musste Keiji sich doch selbst dazu zwingen weiterzumachen. "Ja, in Ordnung.", murmelte die Eule. Keiji hob den Arm und stieß die Schranktür auf. Die hässlich beige Farbe stach ihm in die Augen. Er betrat den Schrank und Kōtarō, der noch immer seine Hand hielt, folgte ihm. Mehr als das Öffnen der Tür und das Durchqueeren des Zimmers kostete ihn nun das Umdrehen, das Hineinblicken in den Gang mit den Leichen Überwindung. Er drehte den Kopf. Die leeren Augenhöhlen von einem dutzend toter Luftwesen starrten ihm entgegen. Und an der gegenüberliegenden Wand saß der Papagei. Wie ein König unter den Toten saß er da, die Flügel ausgebreitet, die Brust vorgestreckt, wie zum Angriff bereit. Ihm waren die Augen nicht entfernt worden. Doch sie waren ausgetrocknet, inzwischen nicht mehr, als eine dünne, gelbe Membran, die sich über unendliche, dahinterliegende Dunkelheit spannte. Dieser Papagei war hier seit Jahren. Vielleicht schon länger als Keiji selbst. Warum hatten seine Eltern ihn herum spazieren lassen, obwohl dieser Ort so ungeschützt existierte? Ihm fielen die Worte ein, als er gesagt hatte, dass er den Schrank gesehen hatte: 'Und jetzt willst du ins Familiengeschäft einsteigen?'   Hatten seine Eltern nur darauf gewartet? War es der Plan gewesen, ihn zu einem Mörder zu machen? Wenn ja, dürfte er ihnen einen kleinen Strich durch die Rechnung gemacht haben.

P.o.V. Kōtarō

Keiji hatte aus einem kleinen Verschlag draußen eine Schubkarre, Gartenhandschuhe und eine Plane geholt. Die Eule streifte sich die Handschuhe über die zitternden Hände. Plötzlich ließ ihn eine Berührung an der Schulter zusammenzucken. "Hey, alles wird gut. Wir erledigen schnell diese letzte Sache. Okay?" Keiji drückte seine Schulter. Es war fast vorbei. Fast vorbei. "Ja, bringen wir es hinter uns!" Kōtarō griff sich einen Spatz von dem Sockel neben ihm und legte ihn vorsichtig in die Schubkarre. Keiji begann ebenfalls Leichen in das Transportmittel zu stapeln. Es war den Seelen zwar unwürdig, aber notwendig, sie konnten sie ja schlecht bis zu den Gräbern tragen. Vier Vögel passten in die Karre. Keiji breitete die Plane darüber, damit sie nicht die Vögel einfach offen durch die Stadt fahren mussten. Keiji nahm die Griffe in die Hand und schob die Schubkarre aus der Hütte. Kōtarō folgte ihm zögerlich. "Keiji, meinst du, es hilft?"
"Hm?"
"Na, ob es schon reicht, wenn wir die Leichen nicht mehr im Haus haben. Ist das genug der Therapie?"
"Ha, wohl kaum! Ich habe allerdings ein paar Ideen, wie wir die Hütte zu einem perfekten Ort machen können."
"Ach ja? Also... Du meinst, dann geht das klar?"
"Ja, bestimmt. Wir sorgen einfach dafür, dass wir so viele schöne Erinnerungen an diesen Ort haben, dass die negativen an Bedeutung verlieren. Und das ist absolut machbar. Wir müssen das Haus nur etwas umgestalten."
"Wenn du das sagst."
"Tu ich." Das beruhigte Kōtarō. Keiji hatte einen Plan und setzte alles daran, diesen umzusetzen.
Es würde ihnen besser gehen. Bald. Sie erreichten die Gräber und legten vorsichtig die Leichen in die rechteckigen Löcher. Sanft schob Kōtarō mit der Schaufel Erde über den Vogel. Es herrschte eine merkwürdige Stille, eine gewisse Aura von Feierlichkeit. Es war nicht unangenehm, aber auch nicht gerade aufheiternd. Dennoch unterbrach Kōtarō die Ruhe nicht, er hatte das Gefühl, er wäre das den Luftwesen schuldig. Nach einer schieren Ewigkeit war das Grab gefüllt. Er ging weiter zu dem nächsten und wiederholte den Vorgang. Aus einem seltsamen Impuls heraus kniete er sich schließlich hin und legte die Hände aneinander. "Möget ihr in Frieden ruhen." Er erhob sich und sah Keiji an, der ihn traurig anlächelte. "Ja, möget ihr in Frieden ruhen." Keiji griff nach der Schubkarre und drehte sich um. "Komm, Ko, das waren erst die ersten vier."
"Ja, ich komme." Er schenkte den Gräbern noch einen langen, entschuldigenden Blick, dann folgte er seinem Freund zurück zu der Hütte.

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