Kapitel 27

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Allmählich wurde es dunkel und Thomas wollte die Hütte erreicht haben, bis die Dunkelheit vollkommen eingebrochen war. Außerdem sah es nach Regen aus. Biggi hing noch immer kopfüber über seiner Schulter und zappelte und schlug, ohne jedoch Erfolg damit zu haben. "Ich zeig dich an, Wächter!", rief sie wütend. "Das ist eine Entführung!" Thomas lachte. "Und ja das ist illegal, ich hab's kapiert.", antwortete er amüsiert. "Dann zeig mich doch an, wenn du willst.", meinte er unbeeindruckt. "Das werde ich auch!", stellte Biggi klar, der vom kopfüber Hängen zunehmend schlecht wurde.
"Willst du mal wissen, was wirklich illegal wäre? Wenn ich dich hier einfach so aussetzen würde und das ohne Essen und Wasser! Das wäre illegal, liebe Brigitte." Thomas wusste, dass er Biggi damit nur noch mehr provozierte. "Nenn mich nicht so!", stellte sie gleich klar. "Dir kann man es echt nicht recht machen.", antwortete Thomas seufzend. Für ihn war der Aufstieg ein leichtes Unterfangen, selbst mit der tobenden Biggi im Schlepptau.
Eine Weile ging es steil bergauf über eine Wiese, bevor sie einen kleinen Wald durchquerten. Einen direkten Weg hindurch gab es nicht, Thomas musste dort hindurch laufen wo die Bäume es zu ließen. Biggi kam sich vor wie ein Sack Mehl, so wie Thomas sie durch die Gegend trug.
"Ich find das echt nicht mehr komisch, dreh gefälligst um!" Biggi wollte nach wie vor nach Hause. Sie verstand nicht was sie hier wollten, nicht einmal annähernd. Die Geschichte von Thomas hatte sie im Moment wieder vergessen, dabei war er dadurch erst auf die Idee gekommen. Thomas ignorierte Biggis Worte, dadurch führte sie sich nur noch mehr auf. Nach kurzer Zeit verstand sie allerdings, dass es zwecklos war.
Die Hütte kam irgendwann in Sichtweite und alles war so, wie Thomas es in Erinnerung hatte. Mitten auf dem Hügel, um sie herum nur Gras und die Aussicht war unschlagbar. Einen besseren Therapieort für Biggi als diesen würde keiner je finden.
Biggi war allerdings noch nicht so wirklich überzeugt davon, dass Thomas ihr wirklich helfen wollte. Auch wenn er sie nicht wie befürchtet in eine Klinik gebracht hatte, war sie nach wie vor der Meinung ihn nicht als Freund ansehen zu können und das er sie bei der nächsten Gelegenheit wirklich einweisen lassen würde. Das hatte er ja unmissverständlich gesagt und das wollte Biggi vermeiden. Aber anstatt darüber nachzudenken sich zu benehmen kam sie auf die Idee, erneut abhauen zu müssen. Diesmal endgültig. Einfach abhauen und irgendwo untertauchen, irgendwo hin gehen wo sie niemand mehr finden konnte. Neu anfangen. Allein. Vielleicht konnte sie so vergessen. Irgendwann.
Während sie weiterhin mit dem Kopf nach unten über Thomas' Schulter hing, hörte sie die Schlüssel in deiner Jackentasche klimpern. Die Autoschlüssel. Sie musste sie nur in ihre Hände bekommen und zurück zum Auto gelangen. Ohne würde sie nicht weit kommen und wenn sie es hatte, konnte Thomas ihr nicht folgen. Wenn sie weit genug weg war konnte sie es irgendwo abstellen und sich einen anderen Wagen besorgen. Verschwinden. Einfach weg. Die Fortschritte von heute Mittag, dieses winzige bisschen Vertrauen zu Thomas, war wie weggeblasen.
Dieser ahnte noch nichts von Biggis Fluchtplan. Er hatte den Aufstieg hinter sich gebracht und stand nun vor der Tür der Hütte. Er ließ Biggi runter. Der Pilotin war ziemlich schwindelig als Thomas sie auf die Füße stellte. "Bist du betrunken?", fragte Thomas grinsend und hielt Biggi aufrecht. "Du bist ein Arschloch!", stellte Biggi klar, war aber doch froh das Thomas ihr Halt gab.
"Wo sind wir hier?", wollte Biggi wissen, nachdem es ihr besser ging und sie sich umsehen konnte. Sie standen vor einer Hütte und weit und breit sah sie nur Berglandschaft. Allerdings war es inzwischen ziemlich dunkel und sie konnte nur Umrisse von Bergen und Bäumen erahnen. "Hier werden wir die nächsten Tage oder Wochen, vielleicht auch Monate verbringen. Wie lange es letztendlich dauert kommt darauf an, wie schnell du Fortschritte machst. Ich lasse dich nicht mehr unter Menschen, bis ich merke das es dir besser geht. Das nenne ich die Wächter-Methode.", erklärte Thomas Biggi.
"Die Wächter-Methode, aha.", wiederholte Biggi, während Thomas die Tür der Hütte aufschloss. "Nach dir.", sagte er und ließ Biggi den Vortritt. Widerwillig ging sie hinein und Thomas schaltete das Licht an. Biggi staunte erstmal nicht schlecht, versuchte aber sich das nicht anmerken zu lassen. Sie stand in einem Raum, das wie ein Wohnzimmer aussah. Eine große Couch, eine Wohnwand, ein flauschiger Teppich auf dem Boden, ein Tisch mit Stühlen und ein Kamin. Selbst einen Fernseher gab es und Biggi fragte sich, ob derjenige dem die Hütte gehörte keine Angst vor Einbrechern hatte. Jedenfalls sah die Hütte von außen nicht so groß aus wie sie jetzt von innen wirkte. Aber Biggi hatte ja auch nicht sonderlich viel sehen können.
"Toll hier, oder?", fragte Thomas. Biggi antwortete jedoch nicht, sondern ging zum Regal in dem eine Menge DVD-Filme standen. Wahrscheinlich bekam man hier kein Fernsehprogramm und musste deshalb darauf zurückgreifen. "Die kannst du alle schauen, wenn du magst. Wir haben hier außerdem zwei Schlafzimmer und ein Bad, wo sogar die Dusche einwandfrei funktioniert. Und eine kleine Küche gibt's auch, wir sind also mit dem wichtigsten versorgt.", erklärte Thomas. "Bis auf Holz, das muss ich später noch rein holen." Der Korb neben dem Kamin war leer, wie Biggi nun ebenfalls bemerkte.
Thomas zog seine Jacke aus und legte sie erstmal auf die Couch. Plötzlich vernahmen sie ein Donnergrollen und Biggi zuckte zusammen. "Es regnet heute noch.", prophezeite Thomas. "Aber keine Angst. Ich hab hier schon so manches Gewitter unbeschadet überstanden, hier drin sind wir sicher." Doch Biggi hatte nach wie vor nicht geplant hier zu bleiben. "Dein Wort in Gottes Ohr.", sagte die Pilotin misstrauisch und setzte sich erstmal hin. Sie wollte den Anschein erwecken, dass sie mitspielte. Gute Miene zum bösen Spiel machen, das war ihr Plan.
"Könntest du vielleicht gleich ein Feuer machen?", fragte sie. "Mir ist kalt." In ihrer Stimme lag keine Spur von Unsicherheit. Lügen konnte sie inzwischen ohne mit den Wimpern zu zucken. Im Gegensatz zu früher, da hatte man es ihr sofort angemerkt. 'Monatelange Übung.', dachte Biggi, die sich den traurigen Unterton sogar selbst abkaufte. Thomas war jedoch nicht so leicht zu überzeugen. Anhand der Art wie er Biggi ansah merkte sie, dass er skeptisch war. Deshalb schlang sie die Arme um den Oberkörper.
"Mir ist wirklich kalt.", beteuerte sie. "Dir etwa nicht?" Thomas ging zu ihr, um ihre Hand zu fühlen. Diese war wirklich eiskalt, weshalb Thomas ihr glaubte. Ihr war eigentlich die ganze Zeit kalt, deshalb glaubte Thomas nicht an einen Trick und nickte. "Kann ich klar.", sagte er nun. "Danke.", antwortete Biggi. "Warte hier, ich hole Holz. Das liegt draußen gleich an der Hütte angeschlossen unter einer Überdachung, nass wird es deshalb zum Glück nicht." Biggi nickte und Thomas nahm den Korb, danach ging hinaus.
Sie wartete bis er die Tür hinter sich zugezogen hatte und sprang dann sofort auf. Viel Zeit hatte sie nicht.
Thomas lief hinters Haus, schnell, denn es hatte tatsächlich angefangen zu schütten wie aus Eimer. Im Schutz der Überdachung begann er Holz in den Korb zu stapeln.
Biggi suchte derweil in seiner Jacke nach den Autoschlüsseln und fand sie beinahe sofort. Ohne nochmal großartig darüber nachdenken was sie eigentlich tat, steckte sie die Schlüssel ein und ging zur Tür. Rationales Denken gehörte in ihrem jetzigen Zustand definitiv nicht mehr zu ihren Stärken.
Leise öffnete sie die Tür und sofort peitschte der Wind ihr den Regen ins Gesicht. Aber Thomas war nicht zu sehen, er war vermutlich hinter der Hütte und dort fast fertig. Die alte Biggi hätte so etwas nie getan. Abhauen. Dafür wäre sie viel zu loyal gewesen. Und auch hätte sie sich nicht absichtlich in Lebensgefahr gebracht, was sie mit ihrem Vorhaben jedoch tat, ohne es im Moment auch nur zu erahnen.
Aber gerade fiel es Biggi nicht schwer sich noch einmal umzusehen, ob Thomas zurück kam und als dies nicht der Fall war rannte sie einfach hinaus in den Regen. Geradewegs in die Nacht, die ihre letzte sein konnte.

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