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Thilo,

ich erinnere mich nicht an jeden einzelnen Tagebucheintrag aus der Vergangenheit. Nur noch daran, wann ich meinen letzten schreiben wollte. Gute zehn Jahre sind seitdem verstrichen, die Notizbücher in meinem Regal stapeln sich. Wird es nicht Zeit, mit der Sache Abschluss zu finden? In der Absicht, an einem frühen Donnerstagmorgen, an dem das Studienseminar mir ausnahmsweise frei gegeben hat, meine allerletzten Worte für dich zu verfassen, starrte ich eine geschlagene Stunde das leere Blatt vor mir an. Wofür? Das, was jetzt aus meiner Feder fließt, ist keine Magie und wird nie den Literaturnobelpreis erhalten.

Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen. Man könne annehmen, dass mich das noch ausstehende Ergebnis meines PCR-Tests beunruhigt, das darüber entscheidet, ob der nächste anstehende Unterrichtsbesuch wie geplant stattfindet. Doch nein, ich habe über dich nachgedacht – nicht als Person, die diese Zeilen ja eh nie lesen wird, sondern dich – das Tagebuch. Ist es Zeit zu vergeben?

Man könne annehmen, in den letzten Wochen habe ich die vergangenen Tagebucheinträge durchforstet, um alte Wunden zu öffnen, die dann eine Entscheidung darüber fällen, ob ich nach vorne schaue oder nicht. Fehlanzeige. Nicht die damaligen Tintenstriche lassen mich nachts nicht schlafen, sondern die Erinnerungen. Zu welchem Schluss ich also gekommen bin?

Nun, Thilo. Die Frage ist nicht, wann ich ihnen vergebe. Wenn wir ehrlich sind, habe ich das längst. Die Frage ist: Wann vergebe ich mir selbst?

Immer, wenn Beziehungen sich im Sand verlaufen, immer, wenn ich Aufgaben nicht effizient erledige, wann höre ich auf zu denken: Du bist schuld.

Witzigerweise bin ich mir meiner Stärken absolut bewusst. Die oberen Zeilen lassen zwar vermuten, dass ich das unsichere Mädchen von damals bin. Auch von außen spricht vieles dafür. Aber ich habe mich verändert – wegen anderer oder von allein, keine Ahnung.

Mein Geist ist fest davon überzeugt, wäre er erneut in der Situation von damals, würde er dieses Mal selbstbewusst und taff reagieren. Nun, das sagt sich leicht, wenn das Leben einem aktuell keine vergleichbaren Momente liefert. Da wären höchstens die Gespräche mit meinen Ausbildern, die mir Kritik an den Kopf werfen und ich denke: War doch klar, dass du das nicht kannst.

Es ist etwas anderes, weil wir nicht auf einer Ebene stehen. Noten hängen davon ab. Die Kritik ist berechtigt. Natürlich lehne ich mich nicht gegen sie auf. Aber wie damals wird es nicht mehr ablaufen.

Und doch bin ich nicht zum Klassentreffen gegangen.

Aus dem nüchternen Grund, weil ich dann im Prüfungsstress bin.

Und doch zögerst du, den nächsten Schritt zu wagen.

Vielleicht schreibe ich dir, Thilo, in der Hoffnung, dass er eines Tages zufällig auf dich stößt, alte Verhaltensweisen Besitz von ihm ergreifen und er die Seiten aufschlägt. Ich will, dass er weiß, dass ich ihm verziehen habe. Dass ich nicht seinetwegen zögere, sondern meinetwegen.

Mein Verstand ist ein Chaos. Die Worte sind darin gefangen.

Und die Zweifel, die ich glaube, abgeschnitten zu haben, tragen weiterhin Wurzeln.

Ja, ihr habt sie gesät, aber ich habe sie täglich gegossen. Euretwegen.

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