27 ◄ Die Zeit steht still

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Jede gefühlte freie Minute verbrachten Marlon und ich im Tonstudio, wenn wir nicht mit naja... anderen Dingen beschäftigt waren. Natürlich meine ich Essen ... zum Beispiel. Marlon wollte den Song unbedingt noch fertig kriegen. Von all den Dingen, die wir hätten machen können, entschied er sich gerade für etwas, was wir vorher auch schon getan hatten.

Inzwischen hatte es dann auch (wer hätte es gedacht) zwischen Tyler und Freya gefunkt, nach jahrelangem Abstreiten offensichtlicher Tatsachen. Gut, vielleicht nicht hundertprozentig offensichtlich, denn sonst hätte ich es in meinem ersten Leben sicher gemerkt.

Dann, eines furchtbaren Montag morgens, bekamen wir einen Anruf von Familie Silver. Marlon wurde über Nacht ins Krankenhaus gebracht, weil es ihm plötzlich richtig schlecht ging. »Ich möchte zu ihm!«, teilte ich Mum bestimmt mit.
»Oder du isst erstmal dein Frühstück auf und fährst dann.«

»Ich habe aber keinen Hunger mehr«, antwortete ich im strengen Ton. Es entsprach sogar der Wahrheit. Im Moment war mir eher übel, als dass ich überhaupt noch was runter bekam. In meinem Kopf schwirrte nur noch die Frage herum, wie lange uns noch blieb. Marlon hatte gemeint, dass wenn es erst einmal Bergab ging, es nicht mehr lange dauern würde. Ich konnte nicht mal sagen, ob ich mich jetzt darüber freuen oder darüber weinen sollte.

Ohne einen weiteren Wortwechsel mit meiner Mutter, setzte ich mich in den Mini und fuhr los. Dass mir dabei Tränen in die Augen stiegen, konnte ich nicht verhindern. Ich weiß, eigentlich sollte ich Zeit genug gehabt haben, um mich auszuweinen. Marlons Zustand war ja nicht gerade überraschend. Trotzdem... Jetzt, wo es tatsächlich so weit war...

Der Parkplatz beim Krankenhaus war überfüllt, sodass ich eine Straße weiter, beim Supermarkt parken musste. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Handtasche, um mir vorsichtig die verlaufende Wimperntusche abzuwischen. Anschließend griff ich nach dem Mascara, um mein Make-up nach zu bessern. Packte ihn kurzerhand doch wieder zurück. Es machte eh keinen Sinn mehr. Alles machte keinen Sinn mehr.

Verachtete mich das Leben wirklich so sehr, dass es mich gleich zwei Mal hintereinander bestrafen musste?
»Das hast du jetzt davon.« Vom Beifahrersitz ertönte plötzlich eine Stimme. Seine Stimme. Nur leider die falsche Version. Wie könnte es auch mein Marlon sein, wenn der gerade todkrank im Krankenhaus lag?

»Jetzt bereust du es, oder? Hättest du dich an Tyler oder an einen anderen Kerl gehalten, dann könntest du jetzt glücklich sein.«
»Nein, Marlon! Jede einzelne Träne, die ich vergieße, ist es wert all das zu fühlen. Weißt du warum? Wir dachten immer, dass die ganze Sache den Sinn hatte mein für immer zu finden. Wir haben uns geirrt. Es ging um dich. Denn dank des Zeitsprungs hast du es bekommen, auch wenn dieses für immer ziemlich kurz war.«

Dann hatte er sich wieder in Luft aufgelöst. Dass ich Recht hatte, konnte er wohl nicht ertragen. Missmutig schnallte ich mich los, um den echten Marlon unter die Augen zu treten. Ich konnte nur hoffen, er sah nicht so aus wie ich mich gerade fühlte.

»Ich würde gerne zu Marlon Silver«, teilte ich der Frau am Empfang mit.
»Gehören Sie unmittelbar zu seiner Familie?«
»Nein?«
»Dann tut es mir Leid. Momentan ist kein Besuch gestattet.«
»Was? Aber...«

Das ist nicht fair. Einfach nicht fair. Wer dachte sich solche bescheuerten Regeln aus?
»Sie können hier warten und wir geben dann-«
»Vielen Dank!«, fuhr ich die Frau in einem nicht ganz so netten Ton an.

Vom Snackautomaten zog ich mir einen Twix. Nervennahrung, genau die Art von Essen, die ich jetzt brauchte. Während ich auf dem Twix herum biss, marschierte ich nervös auf und ab. Ob er gerade ohne hin nicht ansprechbar war? Sonst hätten sie mir ein letztes Gespräch mit ihm doch nicht verwehrt, oder? Würde ich überhaupt je wieder mit ihm sprechen können?

Und dann sah ich sie: Eva. Die süße Eva mit dem bezaubernden Lächeln, das jetzt wie weggefegt war. Ihre Tränen liefen wie ein Wasserfall, als sie auf mich zu rannte. Es brach mir das Herz in tausend Stücke. Ohne ein Wort stürmte sie in meine Arme und zog mich ganz fest an sich. Doch es dauerte nicht lange, da entzog ich mich aus ihrer Umarmung. Ich musste es einfach wissen. »Ist er...«

Mehr brauchte ich gar nicht zu sagen, denn als Eva ihren Blick senkte, wusste ich Bescheid. Wie erstarrt, lief ich in die Richtung von der Eva gerade gekommen war. Da lag er. Die Tür war noch geöffnet und durch meine Ohren dröhnte ein langer, durchgezogener Ton.

Wie ferngesteuert, trugen mich meine Füße an sein Krankenbett und brachen dann in sich zusammen. Das war schlimmer. Ich dachte, plötzlich wieder sechzehn Jahre zu sein, gefangen im Körper eines Teenagers, wäre schon ziemlich hoch in der Wahnsinns-Skala. Doch noch schlimmer als Zeitsprünge waren Zeitstillstände.

Wenn du in das bleiche Gesicht deiner Zukunft siehst, es allerdings sein Endstadium erreicht hat. Es gibt keine Zukunft mehr. Zumindest nicht so, wie man es immer erwartet hatte. Die Zukunft hält sich nie an den Plan, in keines meiner Leben. Aber das lag nicht daran, weil sie mich hasste. Das tat sie mit allen Menschen, sonst wären wir nämlich alle Wahrsager geworden.

Jetzt lag es an mir sie zu planen: Meine neue Zukunft. Wenn ich Freya wäre, dann hätte ich ganz einfach Tyler nehmen können. Die beiden wirkten glücklich. Doch ich bin nicht Freya. War ich nie. Ich musste meinen eigenen Weg finden, um glücklich zu werden.

Plötzlich bemerkte ich Tylers Uhr (oder Zeitumkehrer), die irgendwie ihren Weg unter Marlons Krankenbett gefunden hatte. Wofür das alles? Sollte sie nicht ein Geschenk für Tyler an mich sein? Andererseits, vielleicht besaß Tyler diese Uhr jetzt noch gar nicht. Immerhin hatte ich sie erst viel später erhalten.

Ich könnte mit dieser Uhr zurück zu Tyler. Vielleicht könnte ich all das vergessen. Tylers Affäre hatte mir mein Herz nicht allzu sehr zerquetscht. In meinem letzten Leben musste ich mich dazu entschlossen haben. Sonst wäre es nie geschehen. Ich wollte zu Tyler, nichts wollte ich im Moment lieber.

Ich bückte mich, um nach dieser Uhr zu greifen. Als ich das tat, pfefferte ich Tylers Uhr gegen die Wand. Jetzt trat auch die blonde Schlampe zu uns: Es war Freya.

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