Lieber Thilo,
zwar wirst du diese Zeilen hier nie lesen, trotzdem sind sie an dich adressiert. Zum einen gefällt es mir nicht, die klischeehafte Formulierung liebes Tagebuch zu benutzen. Zum anderen kam mir dein Name in den Sinn, weil du der Erste, abgesehen von meiner Familie, gewesen bist, dem ich alles anvertrauen konnte. Es tut mir leid, dass es immer du warst, der an unserer Tür geklingelt hat. Manchmal überlege ich, dir zu schreiben.
Dann denke ich mir: Warum überhaupt? Wir erleben täglich ähnliche Dinge, Thilo. Das ist mir bewusst. Deshalb vermute ich, dass du mit diesen Worten von allen Menschen auf diesem Planeten auch am besten umgehst. Hast du dich je gefragt, wann wir unbeliebt wurden? Was der Auslöser gewesen ist? Haben wir einander unbeliebt gemacht? Manchmal denke ich das. Es ist nicht der Grund, warum ich mich weigere an deiner Tür zu klingeln. Dafür gibt es nämlich keinen.
Warte ich darauf, dass du zu mir rennst? Warte ich auf Bestätigung, weiterhin gemocht zu werden? Thilo, ich schreibe dir nicht, damit du mich verstehst. Das schaffe ich ja nicht mal selbst. Ich schreibe, weil ich mir nach heute nicht mehr anders zu helfen weiß.
Etwas in mir möchte reden, doch dabei nicht gehört werden. Deshalb vertraue ich auf dein stummes Ohr.
Lieber Thilo, vor ein paar Wochen habe ich gehört, wie sie sich über deinen neuen Kleidungsstil lustig gemacht haben. Aus direkter Quelle. Antonia hat schmunzelnd zu mir gesagt: Dein Sandkastenfreund wird jetzt ein Emo. Das, was ich sagen wollte, kannst du dir sicher vorstellen. Niemand, der selbst am eigenen Leibe Schikane erlebt hat, sollte solche Worte austeilen.
Was ich getan habe? Erinnere mich nicht daran, dass wir mal befreundet waren.
Ich möchte, dass dir klar ist, dass ich von diesen Worten nicht überzeugt bin. Niemals würde ich dich verurteilen. Und gewiss hat der Satz meinen Mund nicht verlassen, weil ich neuerdings Freude am Mobben anderer Leute empfinde.
Wie du vielleicht weißt, ist Antonia so ziemlich das letzte Lebewesen an unserer Schule, an das ich mich klammere. Wenn ich nicht mehr zu ihr gehöre, zu wem dann? Kurz kam mir der Gedanke, ob die coolen Jungs in unserer Klasse aus ähnlichen Gründen handeln.
Ich sagte mir: Nein. Thilo, wir sind anders. Sie werden nicht darum bangen, ausgegrenzt zu werden, denn sie sind die Grenze. Bei ihnen liegt die Entscheidung, ob Schule ein friedvoller Ort oder die Hölle auf Erden wird. Und sie haben sich entschieden. Eine Entscheidung, die ich ihnen nie verzeihen werde, und falls doch – so ändere ich mein Vorhaben, für immer Tagebuch zu schreiben, selbst wenn es mir noch so viel Freude bereitet.
Zeitweise habe ich überlegt, meine Worte direkt an sie zu richten. Damit sie wissen, welchen Schmerz sie mir zugefügt haben. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, es würde nichts bringen. Sie machen immer weiter. Auch dann, wenn ich die Schule verlassen habe, wird es andere von ihnen geben, die sich für den Richter eurer Leben halten.
Das klingt ziemlich dramatisch, als entstamme ich einem Roman oder so. Dabei könne mein Leben langweiliger nicht sein. Keiner von denen hat mich je physisch verletzt. Manchmal ertappe ich mich dabei, mir zu wünschen, es wäre so, nur um die Unsicherheit in mir zu rechtfertigen.
Warum ich gerade heute anfange, Tagebuch zu schreiben? Wir sind auf Klassenfahrt, Thilo. Du und ich, aber in getrennten Räumen. Weil wir Junge und Mädchen sind. Zwar müssen sich die Lehrer bei uns keine Gedanken machen, in eine wilde Knutscherei zu geraten. Trotzdem haben wir uns nicht für ein gemeinsames Zimmer eingesetzt. Warum auch? Wir treffen uns ja kaum noch.
Thilo, ich wünschte, wir hätten es. Maren, ausgerechnet Maren hat mir heute die Augen geöffnet. Dabei zählt sie zu den Mädchen, bei denen ich das Gefühl hatte: Vielleicht werden wir eines Tages Freunde.
Kann sein, dass du dich erinnerst, wie wir beide heute vorzeitig die U-Bahn verlassen hatten. Sie musste etwas Wichtiges aus der Jugendherberge holen und ich suchte nur einen Ort, um in Ruhe auf Toilette zu gehen. Schon der Moment, wo sie zügigen Schrittes einige Meter von mir Abstand hielt, war ein Zeichen auf das, was folgte.
In der Jugendherberge drehte sie sich fauchend zu mir um. »Sag mal, habe ich einen Magneten am Arsch oder warum läufst du mir hinterher wie ein streunender Köter?«
Die folgenden Worte wird niemand von mir erwartet haben, aber sie flossen trotzdem aus meinem Mund heraus. In den meisten Momenten lastet Traurigkeit auf mir. Der Berg an Ausgrenzung ist inzwischen so groß, dass es unmöglich ist, sich freizuschaufeln. Gerade dann, wenn man völlig alleine dasteht.
In diesem Moment gab es jedoch nur uns zwei und den Teil, der Maren im Unrecht sieht. Ich schäumte über. Die Worte, die ich all die Jahre platt gedrückt habe, schossen hervor wie Pfeile und beabsichtigten sie direkt in ihrem Herzen zu treffen. Doch ich zitterte, und Maren wütete ebenso.
»Schon vergessen, dass wir uns ein verdammtes Zimmer teilen? Ich muss dringend die Toilette benutzen!«
Zwar sagte mir Maren indirekt, wie überrascht sie von meinem Tonfall ist. In ihrer Mimik spiegelte sich allerdings keinerlei Überraschung, sondern blanker Zorn. »Jetzt sprichst du also mit mir. Schon mal daran gedacht, die Toiletten hier unten zu benutzen?«
Nein, ich habe nicht daran gedacht. Auch jetzt bin ich zu beschäftigt damit, über ihre ersten Worte nachzudenken. Was ist, wenn ihre Wut begründet ist? Ich weiß, dass ich mehr mit anderen Menschen reden sollte. Auf sie zugehen. Auf dich zu gehen. Gespräche führen, Freundschaften aufbauen.
Warum kann ich das nicht, Thilo? Ich hoffe, eines Tages wird mir klar, warum ich bin wie ich bin. Dass mir jemand die Gründe nennt, warum andere lustig über das nächste Wochenende plaudern, während ich in Gedanken festhänge. So wie jetzt. Ich liege alleine auf dem Bett und beginne Tagebuch zu schreiben – auf einer Klassenfahrt.
Nach dem Gespräch mit Maren bin ich endlich zur Toilette gegangen. Ich habe auf den Fluss gewartet (sorry für die detaillierte Beschreibung, aber niemand wird das lesen, also bin ich ehrlich). Beim Warten hatte ich das Gefühl, das Wasser bringt meine Blase in wenigen Augenblicken zum Platzen. Hast du dich je gefragt, ob die Harnblase explodieren kann? Nun, ich schon. Deshalb habe ich auch eine Antwort: Nein, kann sie nicht. Stattdessen füllt sie sich immer weiter unerträglich mit Flüssigkeit.
Während ich die Zeilen schreibe, habe ich das Gefühl, ein kleiner mit Wasser gefüllter Luftballon bewegt sich in meinem Uterus.
Maren fragte mit gerümpfter Nase: »Warum hast du nicht gespült?«
Und ich antwortete: »Ich muss doch nicht.«
Aber ich muss, Thilo. In diesem Moment. So sehr. Doch ich kann nicht, weil Maren und ihre Worte im Zimmer nebenan über mich wachen. Wann wird das enden? Wird meine Blase letztendlich platzen? Keine Ahnung, jetzt wird mir jedenfalls klar, dass nicht sie das Problem sind, sondern ich.
Und ich schreibe dir in der letzten Hoffnung, dass du mich verstehst, und wir wie Shrek und Fiona sein können – nur ohne die Liebesgeschichte.
Auf eine Schlussformel werde ich verzichten, denn du weißt genau, wer ich bin.
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Teen Fiction„𝒾𝒻 𝒾𝓉 𝓉𝒶𝓀ℯ𝓈 𝓉𝒾𝓂ℯ 𝓉ℴ 𝑔ℯ𝓉 𝓉ℴ 𝓎ℴ𝓊, 𝒾'𝓁𝓁 𝑔ℯ𝓉 𝓉ℴ 𝓎ℴ𝓊" ~ 𝐓𝐡𝐞 𝐍𝐚𝐜𝐢𝐨𝐧𝐚𝐥 𝐏𝐚𝐫𝐤𝐬 ⌫ Sie zählte schon ihr ganzes Leben zu den Menschen, die jeder auf der Straße wiedererkennt, aber kaum jemand ahnt di...
