21 ◄ Identifizierung mit fremden Texten

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»Den Zeige- und Mittelfinger in den zweiten Bund, den Ringfinger in dritten. Ein D zu greifen ist nun wirklich nicht schwer!« Ja, das sagte sich so leicht als Gitarrenprofi. Aber die Wahrheit ist, ich verrenke mir hier gerade die Finger.

»Vermutlich sollte ich beim Gesang bleiben.«

Marlon schnaubte. »Vermutlich solltest du das.« Danach grinste er mich breit an. »Aber dafür brauche ich dich ja auch.«

»Apropos. Hast du eigentlich schon irgendwas an Text für diesen unglaublichen Song fertig?«, fragte ich ihn.

»Äh, naja. Also... schon, aber-« Genervt verdrehte ich meine Augen. Ständig dieses Aber, aber, aber. Sein Geist-Ich war was das anging unkomplizierter.

»Nichts aber! Entweder du hast Text oder eben nicht.«

»Er ist noch ausbaufähig... also noch nicht ganz fertig.«

»Egal! Sing einfach mal das, was du schon hast«, schlug ich vor. Ich war jetzt wirklich neugierig.

Ziemlich unsicher suchte er in den Schubladen nach dem Songtext. »Also erwarte wirklich nicht zu viel. Ich wollte-«

»Verdammt, Marlon! Jetzt sing einfach!«

Er drückte irgendwas am PC und die Musik von vorhin spielte wieder ab. Eigentlich konnte es nur gut werden. Selbst wenn der Songtext jetzt unglaublich scheiße sein wird, zu dieser Musik würde sich selbst ein Text über eine Stulle Marmeladenbrot gut anhören.

»Some people call me crazy for the stupid things I do. If you keep playing guitar, you don't think life though. But... please tell me; what's life, if you don't live it right?

Fang to live! That's what all the people say.

Do it right! You get the chance that day.

Maybe your dream isn't far away.

Looking forward, the only simple way.

If you want, we can make this music forever.

It could be me and you, or we all together. This time I do what I like, I start my day right, tonight.«

Dann brach er ab. »Was dann kommt weiß ich noch nicht genau.«

»Wow, Marlon! Der Song ist großartig und passt perfekt zu der Musik.«

Erleichtert atmete er aus. »Gut. Das habe ich erhofft.« Irgendwie haben mich seine Worte berührt, weil ich mein eigenes Leben so gut damit identifizieren konnte.

Marlons und mein Leben schienen deshalb gar nicht so unterschiedlich zu sein. Vielleicht ist das auch der Grund warum ich gerade ihn als Geist sehen kann. Damit ich ihm dabei helfe seinen Traum zu verwirklichen. Ich meine, gäbe es seinen Geist nicht, hätte ich vermutlich nie Kontakt zu ihm aufgebaut.

Wo man gerade an den Teufel dachte.... Als ich seine Gestalt in der Ecke erblickte, musste ich einmal ordentlich zusammenzucken. Was bitteschön tat er hier? Sonst vermied er es eigentlich immer grundsätzlich mit seinem realen Ich in einem Raum zu sein.

»Ach... Ich dachte, ihr wolltet lernen!«, maulte er sofort los als er uns im Tonstudio sah. Warum konnte er sich nicht freuen? Wie konnte die eine Version von ihm sich nichts sehnlicher wünschen als dass ich mit ihm Musik machte, während sein Geist dies strikt abzulehnen schien? »Wir haben wichtigeres zu tun, Jamie!«, versuchte er seinen Wutausbruch zu rechtfertigen.

Natürlich konnte ich ihm jetzt nicht antworten. Allerdings ließ ich es trotzdem nicht ganz unbeachtet. »Marlon! Wir müssen uns Morgen unbedingt wieder treffen. Jetzt muss ich leider los. Der Song ist so gut, den müssen wir veröffentlichen. Ich habe eine Kamera. Vielleicht könnten wir ihn erstmal auf YouTube hochladen.«

»YouTube? Ich weiß nicht.... Was wenn uns die Leute da in den Kommentaren fertig machen?«, fragte er mich unsicher.

»Sag mal, hast du eigentlich verstanden, was du da geschrieben hast? Der Song ist viel zu gut, um ihn nicht mit der Welt zu teilen.«

Schließlich stimmte er mir dann doch zu. An seinem Selbstbewusstsein musste er echt noch arbeiten. Aber anscheinend würde das die Zukunft noch mit sich bringen, wenn man sich mal Geist-Marlon ansah. Obwohl... vielleicht sollte er doch nicht selbstbewusster werden. Oder... naja, eine Mischung der beiden wäre perfekt.

Vielleicht keine fünfzig-fünfzig Mischung, denn kaum hatte ich das Haus verlassen, definierte Geist-Marlon das Wort aggressiv neu. »Ich habe gewartet, gewartet. Du hast mir versprochen, dass ihr lernen wolltet und du dann wieder kommen würdest!« Wegen seinem giftigen Ton wollte ich ihn gerade gegen die Hauswand schubsen. Erfolglos allerdings. Hätte ich mir ja auch denken können. Meine Hand glitt so durch seinen Körper durch.

»Weißt du was? Ja, tut mir leid. Ich bin nicht wieder gekommen, um mich mit dir gegen meine beste Freundin zu verschwören, sondern hatte stattdessen Spaß.«

»Was soll das denn jetzt heißen? Ich helfe dir doch nur! Jetzt tu nicht so als würde ich dich zwingen. Du wolltest es doch genauso!«

Ich atmete einmal kurz durch. An seinen Worten war etwas Wahres dran. Freya liebte Tyler, Tyler schien Freya auch nicht abstoßend zu finden. Irgendwas schienen die beiden zu haben. Das konnte ich nicht leugnen. Und ich wollte meiner besten Freundin wirklich dieses Glück nehmen? Klar, über die Jahre hin ist unsere Freundschaft in die Brüche gegangen. Aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mir nichts ausmachte. Ein Teil von mir ist deshalb gebrochen.

Ich überlegte eine Weile. »Vielleicht bin ich gar nicht hier, um meine ewige Liebe zu finden. Vielleicht sollte ich Tyler und Freya einfach zu ihrer verhelfen. Es gibt schließlich einen Grund warum das mit mir und ihm nicht klappte.«

»Dann gibst du einfach auf? Du versuchst es nicht mal? Das kann nicht der Sinn sein! Der Sinn soll sein, dass du dein Happy End findest.«

»Was, wenn Tyler nicht mein Happy End ist?«

»Nein, Jamie, nein! Wir werden jetzt nicht unzählige Typen von diesem Land durchgehen, um zu gucken ob er der richtige ist. Das dauert mir zu lange! Du liebtest Tyler, er liebte dich!«

»Man muss sich im Leben nun mal öfter verlieben, um den richtigen zu finden. Ja, ich liebte ihn. Aber möglicherweise nicht genug.«

»Wie soll das jetzt aussehen? Du datest ein paar Kerle, dann trennst du dich wieder von ihnen. Das ist keine ewige Liebe, Jamie! So werde ich für immer hier feststecken.«

»Ich denke, ich habe meine ewige Liebe schon gefunden.«

Er schaute mich mit geweiteten Augen an, während ich endlich langsam die Tür aufschloss, um in mein Zimmer hoch zu gehen. »Was? Echt? Wen denn? Warum weiß ich davon nichts? Und warum bin ich dann noch hier, wenn du sie schon gefunden hast?«

»Es ist keine Person. Meine ewige Liebe ist die Musik. Vielleicht kannst du ja gehen, wenn ich mit deinem anderen Ich diese Single veröffentlicht habe.«

»Das halte ich für keine gute Idee.«

»Warum? Warum kannst du dir nicht mehr vorstellen, dass Musik tatsächlich ein Happy End sein kann? Was ist seitdem geschehen?« Ich wusste schon länger, dass er mir irgendwas verschwieg. »Ich meine, es passt doch. Das wäre dann vielleicht auch die Erklärung dafür, dass du der Geist an meiner Seite bist.

Er brummte. »Fein. Dann tu's doch. Aber beeile dich verdammt nochmal!« Manomann. Der wollte wirklich dringend kein Geist mehr sein.

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