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Glückwunsch Thilo,

endlich haben wir es geschafft, die Realschulzeit hinter uns zu lassen. Wie hast du dir deinen Abschluss vorgestellt? Genau so, vermute ich. Von meinem Platz aus habe ich dich heimlich beobachtet, wie du mit Frau Schneider getanzt hast. Du wirktest glücklich. Obwohl wir beide vieles gemeinsam haben, sind wir doch verschieden. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du nach dem Abschluss umziehen wirst. Das freut mich. Ich habe dich schon immer eher als Stadtkind gesehen. Rücklingshausen ist zu klein und lässt deine Individualität nicht strahlen.

Hoffentlich besuchst du mich davor ein letztes Mal. Ich würde dir gerne so Vieles sagen. Mehr noch hoffe ich aber darauf, dass du mich mit deinen Sprüchen zum Lachen bringen wirst. Ein abgerundeter Kommentar bezüglich der Aufreger von Frau Ehring, das wünsche ich mir. Wie in alten Zeiten.

Nur zur Info: Ich verübele es dir nicht, solltest du nicht erscheinen. Weißt du noch, als sich unsere Blicke in der alten Diele kurz gestreift haben? Du hast an der Bar gesessen, ein wenig Bierschaum am Mundwinkel kleben gehabt, und zu Finn gesagt: »Nächsten Monat ziehe ich nach München um.« Ich weiß, dass die Worte eigentlich an mich gerichtet waren.

Es tut mir leid, dass ich nicht bei euch an der Bar gesessen habe. Tanzen wollte ich auch, wirklich. Nur mit wem? Und wer setzt sich zu mir, um ein Bier zu trinken? Niemand. Deshalb habe ich mit meiner Familie gegessen, bin anschließend noch kurz zur Toilette gegangen, und dann – kamen die Bauchschmerzen. Nicht vom Essen oder euren Blicken auf meiner Haut, nein.

Ich habe über Antonia nachgedacht, wie sie in Jeans und schwarzem T-Shirt zu ihrer eigenen Abschlussfeier erschienen ist. Kurz wirrten eure Worte durch meinen Geist: »Ob sie zu einer Beerdigung will?« Die meiste Zeit beschäftigten mich aber die Worte meiner Familie, die sich von euren gar nicht so unterschieden.

Dann habe ich auf mein schwarzes Kleid hinabgeblickt und mich gefragt, ob ich nicht auf der falschen Seite stehe. Wieso bin ich mit Antonia statt mit Vivien und Co. befreundet? In dem Moment kroch Ekel meine Kehle hoch. Ich bin abstoßend. Weil ich mich mit Leuten unter meinem Wert abgebe? Allein für den Gedanken hoffe ich, dass die Hölle mich irgendwann zurücknimmt und der Teufel mich mit seinem Zepter zu Tode foltern wird.

Antonia hat die alte Diele nicht besucht. Warum maße ich mir also an, cool genug zu sein, um mit euch feiern zu dürfen? In der Schule sind wir gleich.

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