9 Kapitel - Asthmaanfall

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„He, Watts, was 'n los?", ruft plötzlich eine dunkle warme Stimme durch den Raum, und ich merke, dass ich zittere und mich nicht rühren kann.

Steve tritt zurück und setzt wieder sein charmantes Lächeln auf. Ich schnappe nach Luft, mein Atem geht schnell und flach. Vergeblich kämpfe ich gegen die Panik an. Du musst ruhig werden, sage ich mir,...ruhig ... ganz ruhig...

Die Stimme spricht weiter. Ich schaue auf und sehe, wer es ist. Christopher. Ich schließe die Augen und zwinge mich, langsamer zu atmen. Einatmen ... und ausatmen ... und einatmen ... und ausatmen....

„Ich hab's doch gewusst, dass du das bist", sagt Chris. „Ich wollte dich fragen, ob du mich morgen Abend in den Club reinschleusen kannst?"

Steve nickt und geht zur Tür. „Ja, klar. Warte draußen auf mich, kein Problem."

Dann dreht er sich zu mir um. „Also dann bis morgen .. " Und damit geht er zur Tür hinaus.

Jetzt bin ich mit Chris allein. Ich weiß, dass ich mich beruhigen muss, aber es funktioniert nicht. Mein Atem wird immer schneller. Ich kneife die Augen zu und balle die Fäuste.

Die Erinnerung an meinen letzten Asthmaanfall
blitzt in meinem Kopf auf. Ich hatte mit dem Hund der Nachbarn gespielt, als er mich plötzlich ansprang und umwarf. Ich bekam keine Luft mehr. Ich dachte, ich müsste sterben. Und dasselbe passiert mir jetzt.

„Dieser Watts weiß nicht, was er sich mit dir aufhalst. Du machst doch viel mehr Stress, als du überhaupt wert bist."

Ich schüttle den Kopf. Das ist wirklich das Letzte, was ich jetzt brauche, dass dieser Typ mich auch noch blöd anmacht. Hau ab, denke ich. Los, geh. Hau einfach ab, verdammt noch mal .

Chris bleibt, wo er ist, ohne sich um meine telepathischen Botschaften zu kümmern.
„Oh, doch, Anderson, das ist so. Verdammt, warum verschwende ich überhaupt meine kostbare Zeit ..."

Ich höre nicht mehr, was Chris sagt, und breche auf dem Boden zusammen. Meine Lungen sind jetzt total zu, und es gibt nichts, was ich dagegen machen kann. Warum in aller Welt hab ich mein Asthma-Spray nicht dabei?

„Jen!", höre ich eine Stimme sagen. Eine Stimme, die von ganz weit herkommt, die endlos in meinem Kopf widerhallt.

Ich öffne ein Auge und sehe, wie jemand über die
Tische hechtet, dann stürzt er an meine Seite.
"Jen?", sagt die Stimme wieder. „Jen? Kannst du mich hören?"

Die Stimme erreicht mich jetzt, aber nur ganz langsam, Wort für Wort. Ob ich ihn hören kann? Ja. Was will er? Ich nicke leicht mit dem Kopf.

Chris zieht mich hoch, sodass ich jetzt sitze.
„Wo ist dein Asthma-Spray? Jen? Wo ist dein Spray?"

Asthma-Spray? Ich weiß nicht. Hab kein ... kein ... Ich schüttle den Kopf. Nein, kein Asthma-Spray, denke ich. Ich hab es vergessen ..... vergessen...
.. hilf mir, bitte ..

Chris stöhnt verzweifelt und zieht mich auf seinen Schoß. Behutsam legt er eine Hand auf meinen Magen, die andere unter meine Kehle und zieht mich an sich. Ich spüre, wie sein Brustkorb sich hebt und senkt, spüre sein stetiges Atmen und seine warme Umarmung.

„Atme mit mir, okay?", flüstert er mir sanft ins Ohr. „Lehn dich an meinen Brustkorb und entspann dich. Einatmen ... und ausatmen ..."

Chris hat meine Arme an seiner Seite festgenagelt, sodass ich nichts anderes tun kann, als seinem Atem zu folgen. Ich lehne mich an ihn und lasse mich von seiner Wärme und Kraft beruhigen. Langsam wird mein Atem tiefer, und das Karussell in meinem Kopf kommt zum Stillstand. Meine Lungen öffnen sich, und ich kann wieder durchatmen. Meine Brust hebt und senkt sich im Rhythmus von Chris Atem, und ich entspanne mich allmählich.

„Ich hatte auch Asthma, als ich noch ganz klein war" ,sagt Chris ruhig. „Einmal war ich mit meinem Dad im Garten-Center, und wir sind im Gewächshaus herumgelaufen. Es war total stickig da drin von den ganzen Pflanzen und Pollen, die überall in der Luft herumschwirrten, und bei mir hat das einen schlimmen Anfall ausgelöst. Mein Dad hat mich hochgehoben und mir beim Atmen geholfen, so wie ich es gerade gemacht habe. Hinterher hab ich ihn gefragt, woher er wusste, was er tun muss, und da hat er gesagt, er wusste es gar nicht. Er hat einfach nur gemacht was er für richtig hielt."

Ich atme langsam weiter, und während ich mich zu beruhigen versuche, denke ich darüber nach, was Chris gerade gesagt hat. Unglaublich, dass der ach so perfekte Banner-Sprössling früher mal dieselbe schlimme Krankheit hatte wie ich.

Ich atme jetzt durch die Nase ein und nehme Chris' Geruch wahr. Ein angenehmes Prickeln breitet sich in mir aus und gibt mir die Kraft, tiefer zu atmen.

Plötzlich reiße ich die Augen auf, versteife mich. Chris Arme fallen von mir ab, und ich stehe schnell auf. Chris springt auch auf, klopft sich die Jeans ab und räuspert sich, ohne mich anzusehen.

Ich stehe nur da und starre ihn an. Er sieht jetzt wie ein ganz anderer Mensch aus, so als sähe ich ihn zum ersten Mal. Seine Frisur ist gar nicht so perfekt gestylt, weil er mit den Händen durchgefahren ist. Seine Augen sind nicht böse - kein kaltes, stechendes Blau, sondern mehr ein Meerblau. Er sieht eigentlich ganz normal aus. Sogar sehr attraktiv.

Endlich schaut er mir in die Augen. Eine Sekunde lang schimmert etwas in seinem Gesicht auf, das noch nie da war. Dann setzt er wieder sein selbstzufriedenes Grinsen auf.

„Na ja, ich konnte dich ja nicht hier sterben lassen, Anderson, sonst hätte man mir die Schuld in die Schuhe geschoben. Was nicht heißen soll, dass du tatsächlich gestorben wärst - ihr Andersons seid nur alle so überempfindlich, die reinsten Mimosen. Also bis dann, falls es sich nicht vermeiden lässt."

Das neue Bild von Chris Banner zerspringt in tausend Scherben wie ein zertrümmerter Spiegel. Stattdessen tritt der böse alte Chris wieder auf den Plan und funkelt mich an, bevor er sich umdreht und aus dem Kunstraum stolziert.

Ich starre ihm giftig nach und beuge mich hinunter, um meine Tasche aufzulesen. Ich bin immer noch ganz wacklig und gehe erst mal zur Schulschwester. 

Einen winzigen Augenblick lang hatte ich etwas Gutes in Chris Banner zu sehen geglaubt. Ja, genau, denke ich. Dann kannst du dich gleich mit
dem Teufel einlassen. Dein Gehirn war wahrscheinlich zu lange ohne Sauerstoff, sodass du schon Visionen hattest.

Ich stoße die Tür zum Sekretariat auf und gehe zielstrebig zum Empfangstresen. Die Sekretärinnen hängen alle am Telefon. Eine von ihnen hält den Zeigefinger hoch, um mir zu signalisieren, dass ich einen Augenblick warten soll, und ich setze mich auf das Sofa, das hinter mir steht. Herr Westler wird eben warten müssen...

Everything is possible - Verliebt in meinen Erzfeind Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt