24 Kapitel - Aus der Traum?

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Auf dem Weg zur Probe, als ich den dunklen Gang zum Theatersaal hinuntergehe, höre ich Stimmen von drinnen.

Was wird da geredet? An der Tür bleibe ich stehen und lausche. Ich höre die Walker sprechen.

„Also, Misha, fang bitte noch mal bei Hinab, du flammenhufiges Gespann an, okay?"

Ich runzle verwirrt die Stirn. Das sind meine Zeilen. Was soll das? Plötzlich wird mir klar, was passiert ist, und ich muss einen Aufschrei unterdrücken. Die Walker hat gesagt, wenn ich in irgendeiner Weise das Stück aufs Spiel setzen würde, dann wäre ich draußen ... Oh Gott ....

Ich schüttle den Kopf. Nein, unmöglich, das kann nicht sein. Das würde sie mir doch nicht antun. Nicht jetzt doch? .... Oder etwa

Ich drücke mich mit dem Rücken noch fester gegen die Wand, aber ich spähe um die Ecke herum in den Saal.

Chris steht links auf der Bühne und geht allein seinen Text durch; seine Lippen bilden die Worte, seine Hände gestikulieren, er ist ganz in seine Rolle vertieft. Aber das ist es nicht, was die Wut in mir hochschießen lässt.

Misha steht mitten auf der Bühne und spielt sich die Seele aus dem Leib, ein Textbuch in der Hand. Die Walker hält sich rechts von Misha, ebenfalls den Rollentext in der Hand, und nickt begeistert. Misha legt eine wirkungsvolle kleine Pause ein, dann rezitiert sie ihre letzte Zeile:

„Und jede Zunge, die nur Romeos Namen nennt,
Spricht so beredt wie ein Engel."

Misha dreht sich zu Mrs Walker um und lächelt unsicher, ihre Arme verlegen über der Brust verschränkt.

Die Walker räuspert sich. „Ich weiß, dass das nicht einfach für dich ist, Misha, aber ich kann keine Rivalität zwischen den Mitgliedern unserer Truppe dulden. Das ist unfair den anderen gegenüber ..."

Ich bin so empört, dass mir die Worte fehlen, aber ich dränge meine Wut zurück, damit ich einigermaßen ruhig in den Saal gehen kann und beherrschter wirke als gestern.

Ich ringe mir ein Lächeln ab und gehe auf die Bühne hinauf, als hätte ich die vorausgegangene Unterhaltung gar nicht gehört. Meine Augen brennen vor unterdrückten Tränen, aber ich lächle die Walker entschuldigend an. Sie wirkt sehr nervös.

Dann schaue ich zu Misha. Misha spielt die Zerknirschte, aber das Glitzern in ihren Augen sagt mir (was ich sowieso schon weiß), dass sie insgeheim geradezu übersprudelt vor Schadenfreude.

Chris starrt einfach an mir vorbei, als ob ich Luft wäre. Ich weiß nicht, was mich mehr verletzt. Ich schaue zu Chris hoch und fange seinen Blick ein. Er starrt mich ausdruckslos an.

Ich seufze. Das wird verdammt hart. Ich zwinge mich, das Schweigen zu brechen. Schließlich bin
ich hergekommen, um mich zu entschuldigen, und das ziehe ich jetzt durch.

„Chris .." Ich weiß selbst nicht, wie ich es schaffe, seinen Namen ohne den geringsten Anflug von Hass oder Sarkasmus auszusprechen. „Es tut mir so leid", stoße ich hervor und lege so viel Aufrichtigkeit in meine Stimme, wie ich nur aufbringen kann. „Ich hätte dich nicht schlagen dürfen. Das war völlig daneben. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich kann es selbst kaum fassen, dass ich mich so von meinen Gefühlen hinreißen lassen habe - das war ganz und gar unprofessionell. Ich schäme mich entsetzlich, und ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst, weil es mir ehrlich leidtut."

Ich hole tief Luft und sehe ihm in die Augen, und Chris nickt leicht. Mir ist, als sei eine schwere Last von meinen Schultern abgefallen. Aber es ist noch nicht vorbei. Ich drehe mich zur Walker um: „Und bei Ihnen muss ich mich auch entschuldigen, Frau Walker. Es tut mir unendlich leid, dass ich mich gestern so danebenbenommen habe, obwohl Sie mir doch ausdrücklich gesagt hatten, dass ich mich zusammenreißen soll. Bitte verzeihen Sie mir, ich kann nur immer wieder sagen, wie leid es mir tut, und es wird auch nicht wieder vorkommen"

„Gut, Jen, ich danke dir. Ich hoffe, dass du deine Gefühle in Zukunft ein bisschen besser im Zaum halten kannst."

Ich nicke und bin heilfroh, dass sie meine Entschuldigung so schnell angenommen hat.
„Gut", sage ich, hole tief Luft und gehe schnell auf die Bühne hinauf. „Also, was machen wir heute?"

Chris hüstelt verlegen und geht die Treppe an der Seite hinunter, um etwas aus seiner Tasche zu holen. Misha reibt sich die Stirn und seufzt. Die Walker schaut mich mit undurchdringlicher Miene an. Ist es Mitleid oder Wut?

„Ich habe deine Rolle Misha angeboten."

Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich hatte gehofft, dass mir dieser verhängnisvolle Satz erspart bleiben würde. War jetzt alles umsonst? Meine Handflächen fangen zu schwitzen an, und mir wird leicht schwindlig. Nein, denke ich. Das kann nicht wahr sein ... Jetzt doch nicht mehr. Es dauert eine Weile, bis ich die Sprache wiederfinde.

„Was?", stottere ich mühsam.

Misha sieht aus, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Die Walker wirkt leicht verlegen.

„Ich habe gesagt, dass ich deine Rolle gerade Misha angeboten habe", wiederholt sie und wirft Misha einen nervösen Blick zu. Misha nickt unmerklich. „ Und sie hat angenommen."

Eine höllische Wut flammt in mir auf. Ich drehe mich zu Misha um, die pure Mordlust im Herzen, und mir schieẞen die schlimmsten Ausdrücke durch den Kopf, die ich nur kenne, aber ich weiß nicht, welchen ich als Erstes ausspucken soll. Ich möchte ihr alles auf einmal ins Gesicht schreien, aber meine Stimme gehorcht mir nicht. Mein Kopf dreht sich wie ein Karussell - so viele Gefühle in so kurzer Zeit. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich schäme mich, ich bin entsetzt, wütend, am Boden zerstört und vor allem völlig durcheinander.

Ich kann nicht glauben, dass mir das passiert
... Ich habe meine Rolle verloren.

Misha sieht total zerknirscht aus, aber ich weiß, dass sie die Situation insgeheim genießt, und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen:  Mishas Gerüchte, der Streit, dass ich Chris geschlagen habe, dass ich gefeuert worden bin ... Ich könnte schreien vor Verzweiflung. Genau das hat sie gewollt, als sie diese Gerüchte in Umlauf gesetzt hat.

„Es tut mir so leid, Jen, aber Frau Walker dachte, es ist besser, wenn ich die Rolle übernehme, weil mein Verhältnis zu Chris nicht so vorbelastet ist wie deines..."

Mein Gesicht bleibt ausdruckslos, und Misha verstummt schließlich und beißt sich auf die Lippen.

„Tut mir leid, Jen", murmelt die Walker, und es klingt ehrlich betrübt. „Aber ich kann nicht zulassen, dass unsere Aufführung platzt, nur weil ihr beide euch nicht vertragen könnt. Ich hatte gehofft, dass zwischen dir und Chris auf der Bühne die Funken fliegen würden, aber im positiven Sinn, und das war ein Irrtum. Gestern hat sich gezeigt, dass das zu viel verlangt war, du bist eine fantastische Schauspielerin, Jen, aber ich glaube, es ist das Beste, wenn du zurücktrittst."

Zurücktrittst? ZURÜCKTRITTST?, schreie ich innerlich. Was zum Teufel soll das?

Everything is possible - Verliebt in meinen Erzfeind Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt