29 Kapitel - Stolz vor Schmach

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Ich wühle in totaler Hektik meinen Kleiderschrank
durch, während ich darauf warte, dass Ruben zu mir nach Hause kommt. Irgendwann gebe ich auf und lasse mich auf mein Bett fallen. Ich suche seit ungefähr einer halben Stunde ein passendes Outfit, aber ohne Erfolg. Jetzt will ich mich nur noch einen Augenblick entspannen. Ich schließe die Augen und rufe mir seufzend das Gespräch in Erinnerung, das ich gerade in der ersten Probe hatte, in der ich nicht die Julia war.

Zumindest mache ich immer noch bei dem Stück mit, sage ich mir. Ich denke daran, wie ich vor ein paar Stunden in die Halle gekommen bin, wo manchmal nach der Schule Proben abgehalten werden. Ich hatte dort vorher Sport gehabt und aus Versehen meine Sporttasche liegen lassen. Ruben hatte mir gesagt, dass die Proben an diesem Nachmittag nicht in der Halle, sondern im Theatersaal stattfinden würden, und deshalb dachte ich, dass ich unbesorgt reingehen und meine Sporttasche holen könnte.

Ich hatte vorsichtig in den Saal gespäht und die Walker mit Frau Phillips gesehen, die auf einer Leiter stand und die Beleuchtung fixierte. Die Walker schlug sich genervt die Hand vor den Kopf, und die Phillips kam wieder herunter,ich sah, wie ihre Strumpfhose sich an der Leiter verhakte, als sie schwerfällig herunterkletterte.

Ich nützte die Gelegenheit, um mich hinein zuschleichen. Ich ließ meinen Blick durch den Saal wandern und sah meine Tasche auf der linken Seite liegen.

Als ich die Tür hinter mir zumachte, drehte die Walker sich vorsichtig zu mir um und begrüßte mich mit einem aufmunternden Lächeln, aber ihre Stimme klang gestresst.

„Jen. Wie geht's dir?"

Ich wollte etwas antworten, aber im selben Moment rutschte Frau Phillips von der Leiter ab und stürzte auf den Boden, halb in ihren Rock verheddert. Ich rannte schnell zu ihr hinüber, um ihr aufzuhelfen.

„Haben Sie sich wehgetan, Frau Phillips?", fragte ich meine Lehrerin, während die Walker und ich sie zu ihrem Platz hinüberführten.

„Nein, nein, Jen, mir fehlt nichts, danke" ,quiekte sie. „Aber mein Knöchel tut schrecklich weh."

Sie wandte sich an die Walker: „Ich glaube nicht, dass ich noch mal auf diese Leiter steige."

Die Walker nickte ihrer Kollegin zu. „Das finde ich auch, Anna. Ich werde mich später darum kümmern."

Und da wusste ich, dass das meine Chance war, wieder in das Stück hineinzukommen. Ich lächelte die Phillips strahlend an.

„Soll ich die Beleuchtung für Sie machen ?", fragte ich.

„Oh, ja, bitte!", sagte sie geradezu flehentlich. „Ich meine wenn du das tun würdest?"

Die Phillips sah mich an, als hätte ich ihr gerade eine Million Euro angeboten, sie lächelte dankbar.

„Na klar, wenn ich darf?"

Die Walker runzelte die Stirn. „Ich wollte dich eigentlich um einen anderen Gefallen bitten, Jen", fing sie an. „Ich wollte dir Mishas alte Rolle anbieten - die Amme."

Sie schwieg abwartend.

Ich überlegte einen Augenblick. Wenn ich die Rolle nehme, kann ich doch noch spielen, dachte ich, aber ich wäre eifersüchtig auf Misha. Und Chris würde sich die Hände reiben! Zu einer Nebenrolle degradiert, nachdem ich praktisch vor ihm im Staub gekniet habe, nur um mich zu entschuldigen? Kommt nicht infrage ... Aber wenn ich den Beleuchterjob annehme, kann ich sagen, dass ich die Rolle abgelehnt habe, die man mir angeboten hat, weil ich lieber die Beleuchtung machen will ... Ja, genau, das wäre viel besser..... Ich drehte mich wieder zur Walker um.

„Nein, danke", sagte ich leichthin. „Ich möchte lieber die Beleuchtung machen - das find ich viel cooler."

Die Phillips stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Walker warf mir einen durchdringenden Blick zu.

„Okay", sagte sie langsam. „Wenn du das wirklich willst?"

Ich nickte.

„Gut, dann machst du die Beleuchtung. Wir brauchen dich nur für die letzten paar Proben, ich gebe dir dann rechtzeitig Bescheid, wann du kommen musst."

Nach der Schule lehnte ich irgendwo an der Wand und hörte in voller Lautstärke Musik mit meinen Kopfhörern.

piotalich kam Ruben angerannt, das Gesicht weiß vor Panik. Ich zog einen Ohrstöpsel heraus, gerade noch rechtzeitig, um die letzten paar Worte zu hören: „.. also was zum Teufel machen wir jetzt?"

„Wieso? Was meinst du?", fragte ich, stellte die Musik ab.

„Hörst du eigentlich nie zu, wenn man dir was sagt? Ich bin erst sechzehn, Mann! Und du fünfzehn! Und dieser Club - da verkehren nur Leute ab achtzehn. Du weißt doch, was das bedeutet, oder? Es bedeutet, dass wir einen Ausweis brauchen. Ich habe keinen Ausweis. Ich hab nicht mal einen normalen Bibliotheksausweis! Was sollen wir denn jetzt machen?"

Ich sagte kein Wort, sondern strahlte Ruben nur an. Mein Schweigen brachte ihn fast zur Verzweiflung.

„Warum sagst du denn nichts? Mein Liebesleben steht auf dem Spiel, verdammt noch mal! Ich muss heute Abend unbedingt da reinkommen! Sonst lädt er mich vielleicht nie mehr ein! Und dann ...."

„Ich hab das alles geregelt", verkündete ich lässig.

Ruben verstummte und starrte mich an, halb verwirrt, halb beeindruckt. „Häh?"

Ich grinste immer noch. „Das ist kein Problem - ich habe einen Plan."

Rubens Gesicht leuchtete auf. „Im Ernst?"

„Ja. Wir sind so gut wie drin."

Danach begleitete ich Ruben noch nach Hause. Er redete die ganze Zeit wie ein Wasserfall, und ich nickte nur dazu, bevor ich schließlich selber nach Hause ging.

Everything is possible - Verliebt in meinen Erzfeind Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt