1 Kapitel - Schule und Idioten

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Die Sonne ist so grell, dass ich blinzeln muss, als ich ins Freie hinauskomme. Ruben steht draußen und wartet auf mich, wie immer, und die Atemwolke vor seinem Mund steigt in die kalte Oktoberluft auf.

Er lacht leise, als ich auf ihn zuschlendere. Ich mit meinen ausgefransten Jeans, die am Boden entlangschleifen, meinem langen schwarzen Mantel, den ich immer trage, meinen zwei glatten dunklen Zöpfen und der verblichenen grünen Tasche über meiner linken Schulter.

Er grinst mich an, und seine hellbraunen Haare fallen ihm in die Augen. „He, was war das denn? Du redest mit einer Lehrerin?" ,zieht er mich auf. „Ich dachte, das ist gegen die Regeln?"

Ich boxe ihn spielerisch gegen die Schulter, während wir über den Hof gehen. „Regeln sind dazu da, dass sie gebrochen werden."

„Auch deine eigenen Regeln, Miss Anderson?"
»Ja, Mister Lucan. Manchmal gibt es eben Ausnahmen von der Regel. So wie heute."
„Und was ist der große Anlass, wenn ich fragen darf?" ,sagt Ruben und reißt mit gespieltem Entsetzen seine tiefgrünen Augen auf.

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass Deutsch neuerdings dein Lieblingsfach ist? Oder hast
du der Phillips endlich gesagt, dass ihre Klamotten das Letzte sind und dass sie sich erst eine offizielle Genehmigung holen soll, bevor sie sich das nächste Mal ein Kleid kauft?"

Ich grinse meinen besten Freund an, der auf seinen langen Beinen neben mir herschlendert. So war Ruben schon immer, seit ich ihn kenne: witzig und schlagfertig, locker immer mit einem offenen Ohr für mich - fast perfekt. Ich bin groß für mein Alter mit knapp 1,75 m, aber Ruben ist noch größer.

Wir sind zusammen aufgewachsen, und ich kann mich an Zeiten erinnern, da war ich größer als er. Als wir noch zusammen auf Bäume geklettert sind und Höhlen gebaut haben, nur wir beide, stundenlang, und ohne uns irgendwelche Sorgen zu machen.

Ich lächle bei dem Gedanken. Das war, bevor die Hormone verrücktspielten und mir plötzlich bewusst wurde, dass Ruben ein Junge ist und dass ich Jungen mag ...

Ungefähr zur selben Zeit, als Ruben herausfand, dass er auch auf Jungs steht. Und das war's
dann. Zu blöd, dass er schwul ist, denke ich. Sonst hätte ich ihn mir sofort gekrallt.

Ruben sieht, dass ich lächle, und zieht mich an sich, legt seine Arme um meine Schultern. „Na komm schon, Süße, sag mir, warum du zu einem Tête-à-tête mit der verstaubten Frau Phillips dageblieben bist?"

Ich lege den Kopf schief und sehe ihm in die Augen. Meine eigenen Augen - sie sind leuchtend grün - blitzen vor Aufregung.

„,Die Deutsch-Abteilung führt ein Theaterstück auf", verkünde ich mit gesenkter Stimme und grinse heimlich in mich hinein. „Ein richtiges Stück. Eine Aufführung, die meiner Familie endlich mal die Augen öffnen wird, damit sie kapieren, dass ich ..."

Ich lasse den Satz in der Luft hängen, zögere einen Augenblick. „Eine echte Herausforderung !", füge ich hochtrabend hinzu.

Ruben grinst, wuschelt meine Haare durch und zwinkert mir zu. „Gut gebrüllt, Löwe. Ich bin jetzt schon stolz auf dich."

Ich lächle zurück. Ruben hält an und wendet sich in Richtung Cafeteria. „Ich hol mir schnell was zu essen", sagt er. „,Muss meinen Zuckerlevel vor der Deutschstunde hochpushen. Kommst du mit oder hast du gleich Mathe?"

„Ich hab gleich Mathe", sage ich. Ich habe keinen
Hunger, und der Mathe-Block ist eine Ewigkeit weit weg, „Bis später dann, okay?"

Ruben winkt und verschwindet in Richtung Cafeteria. Ich mache mich auf den Weg zum Mathe-block, und die Aufregung sprudelt in mir hoch. Ich weiß, dass ich dieser Herausforderung gewachsen bin. Okay, denke ich. Es gibt ein paar Mädchen, die für die Rolle der Julia infrage kommen. Misha Reeves natürlich .., Kym Kaylio ... oder auch Laura Murphy. Wer sonst noch?

Plötzlich taucht ein Typ an meiner Seite auf und reißt mich unsanft aus meinen Gedanken.

„Hi, Jen. Komm wieder aut den Boden runter. Oder überlegst du dir gerade, was du anziehen sollst, wenn du am Freitagabend mit mir ins Mercury gehst?"

Ich stöhne innerlich. Diese Stimme ist unverkennbar. Der Typ, der neben mir herlatscht, heißt Steve Watts, so ein Lackaffe aus der Zwölften. Natürlich voll die große Klappe wie fast alle Jungs an der Schule. Steve kann es nicht lassen: Wo immer ich bin, was immer ich gerade mache, taucht garantiert dieser Idiot auf und baggert mich an. Er lässt mich einfach nicht in Ruhe. Ich krümme mich innerlich, wenn er im Anmarsch ist. Dabei sieht er nicht mal schlecht aus. Im Gegenteil, er ist sogar ein ganz fescher Typ. Aber er hält sich einfach für den Größten und glaubt, dass jedes Mädchen nur so dahinschmelzen muss, wenn er sich herablässt, mit ihr zu reden.

Steve ist groß und durchtrainiert, hat ein unwiderstehliches Lächeln, wenn er will, und quatscht dir die Ohren vom Kopf ab. Wenn er seine Charme-Offensive startet, kriegt er jedes Mädchen rum. Und wenn er genug von ihr hat - was spätestens nach einer Woche der Fall ist -, reißt er die Nächste auf. Das Dumme ist nur, dass die Mädchen trotzdem auf ihn fliegen. Es macht mich wütend, wie er andere ausnützt, und wenn er mit mir redet, kommt mir das große Kotzen. Dieser Typ ist doch nur auf der Jagd nach Frischfleisch. Und im Augenblick bin leider ich die Gejagte.

Ich seufze und lege einen Zahn zu. „Du hast es erfasst, Steve. Ich überlege gerade, was ich anziehen soll, wenn ich am Freitagabend ohne dich zu Hause bleibe. Ich hab dir schon x-mal gesagt, dass ich nicht mit dir ausgehe - weder an diesem Freitag noch am nächsten oder übernächsten. Kapier's endlich, Mann."

Steve lacht. Er hält mühelos mit mir Schritt, weil er ziemlich lange Beine hat. „Ach, du zierst dich doch nur. In Wahrheit bist du ganz scharf drauf, mit mir loszuziehen. Ich kenn doch die Weiber. Und falls du Angst hast, dass du nicht in den Club reinkommst - ich hab da 'nen Job, ich kann dich reinbringen. Du hast keine Ausrede - also stell dich nicht an und sag einfach Ja."

Ich schnalze ärgerlich mit der Zunge und lege eine Vollbremsung ein. Steve bleibt auch stehen und grinst mich an, weil er das Ganze immer noch für ein Spiel hält. Das macht mich noch wütender.

„Verdammt noch mal, wann geht das endlich in deinen Dickschädel rein, dass ich keine fünf Minuten mit dir verbringen will, geschweige denn einen ganzen Abend? Wenn ich Nein sage, dann meine ich Nein, ist das klar? Also, noch mal - ich sag nicht Ja. Weil ich nämlich schon Nein gesagt hab. Und jetzt zisch ab und lass mich in Ruhe!"

Steve starrt mich einen Augenblick verdattert an, dann hellt sein Gesicht sich wieder auf. „Okay", sagt er. „Wie du willst."

Ich seufze erleichtert. Meine Botschaft scheint endlich angekommen zu sein. „Danke", sage ich etwas versöhnlicher. „ Und tut mir leid." „Ach, hör auf", sagt er mit einem Glitzern in seinen Au-
gen. „Wir beide sind füreinander gemacht. Das wirst du schon noch einsehen. Und ich lass nicht locker. Irgendwann kommst du mit. Darauf verwette ich mein letztes Hemd. Bis morgen dann, Jen."

Damit wendet Steve sich um und stolziert zum Zwölftklässler-Block davon, während ich mir vor Wut am liebsten jedes Haar einzeln ausreißen würde. Ich fühle mich wie die Schöne aus Die Schöne und das Biest, und Steve ist das
hässliche Muskelmonster Gaston.

Ich gehe wütend in die Mathestunde. Der Typ hat mir total die Laune verdorben. Ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen, lasse ich mich auf meinen Platz fallen und schlage ein Buch auf. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich richtig froh, dass ich mich auf mathematische Gleichungen konzentrieren kann.

Alles lieber, als an diesen Trottel von Steve Watts und sein aufgeblasenes Ego zu denken.

Everything is possible - Verliebt in meinen Erzfeind Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt