2 Kapitel - Das Vorsprechen

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Heute ist Dienstag. Ich stehe mit ein paar anderen aufgeregten Mädchen aus der Eliten hinter der Bühne und warte darauf, dass ich ausgerufen werde. Wir sind alle hier, um für die Rolle der Julia vorzusprechen. Ich beobachte meine Konkurrentinnen, registriere ihre etwas blassen Gesichter und schwitzenden Handflächen. Der Raum ist so eng, dass man praktisch ihr Herzklopfen hört. Nur ich bin ruhig.

Das vertraute Kribbeln breitet sich in meinem Körper aus -ein Kribbeln, das ich immer spüre, bevor ich auf eine Bühne trete und alle anderen an die Wand spiele. Ich lächle. Meine Handflächen sind trocken, mein Puls normal, und der Monolog, den ich auswendig gelernt habe, ist mir so frisch im Gedächtnis, als hätte ich ihn gerade selbst geschrieben. Ich bin für diese Rolle geschaffen, das spüre ich. Die Aufregung schwappt in mir hoch, als das Mädchen vor mir ihre kleine Szene beendet und von der Bühne geht.

„Jen? Jen Anderson?" Frau Phillips ruft meinen Namen, und ich fege an den anderen vorbei auf die hell erleuchtete Bühne. Ich blinzle nicht in der grellen Lichtflut, sondern gehe zielstrebig mitten auf die Bühne, wo ich ruhig stehen bleibe und darauf warte, dass mich eine der beiden Deutschlehrerinnen anspricht.

Frau Walker beugt sich auf ihrem Stuhl vor, ihr Klemmbrett auf den Knien, den Kugelschreiber in der Hand.

„Also, Jen, was hast du für uns vorbereitet?"
Ich schenke ihr ein kleines Lächeln, gehe nach vorne und reiche Miss Phillips eine Fotokopie meiner Passage.

„Dritter Akt, zweite Szene. Julias Monolog."

Frau Walker wirft einen Blick auf das Blatt, nickt und antwortet: „Gut, du kannst anfangen."

Ich gehe wieder auf die Bühne zurück und hole tief Luft. Irgendwo hinten, im Dunkel des Saals versteckt, pfeift  jemand, und ich unterdrücke ein Lächeln. Typisch Ruben. Immer muss er sich im unpassendsten Moment aufspielen.

Ich konzentriere mich und spüre, wie ich mich verwandle, wie die Gefühle einer der berühmtesten Heldinnen der Theatergeschichte durch meine Adern strömen. Ich lasse die Liebe, die Julia für Romeo empfindet, zu meiner Liebe werden. Ich nehme Julia in mich auf, bis ich selber Julia bin. Alles andere fällt von mir ab, rückt in die Ferne, wie eine Erinnerung an ein anderes Leben. Jetzt, in diesem Moment, bin ich Julia, die vor so langer Zeit gelebt hat. Ich bin glücklich, weil ich verliebt bin, verliebt in Romeo, der mich geküsst hat, der mir ewige Liebe geschworen hat. Ich lasse mich von Julias leidenschaftlichen Gefühlen mitreißen. Ich fange an zu sprechen.

„,Hinab, du flammenhufiges Gespann ... "

Ich sehne die Nacht herbei, kann es kaum noch erwarten, bis es dunkel wird.

„Zu Phoebus' Wohnung! Solch ein Wagenlenker
Wie Phaeton jagt' euch gen Westen wohl"

Ich bete zu den Göttern, dass sie meine Sehnsucht erfüllen.

„Und brächte schnell die wolk'ge Nacht herauf."

Die Nacht, in der er mich heimlich treffen kann, ohne gesehen zu werden.

„ Verbreite deinen dichten Vorhang, Nacht!'"

Damit niemand weiß, dass heute die Nacht ist, in der ich aufs Ganze gehe.

„Du Liebespflegerin! Damit das Auge
Der Neubegier sich schließ' und Romeo
Mir unbelauscht in diese Arme schlüpfe."

Niemand soll es wissen, lass unsere beiden Körper eins sein, lass uns diese Nacht allein sein. Als Julia die Götter anfleht, dass der Tag bald vergehen und die Nacht endlich anbrechen möge, ist meine Stimme zugleich weich und drängend. Shakespeares Worte fließen mir über die Zunge, als kämen sie mitten aus einem Herzen, das vor lauter Liebe und Sehnsucht fast zerspringt.

Ich setze meinen Monolog fort, und die Mädchen, die hinter den Kulissen flüsternd ihre Texte wiederholen, verstummen nach und nach und starren mich an, eine Mischung aus Neid und Ehrfurcht in ihrem Blick. Die Typen, die hinten im Saal herumhängen, hören auch auf zu reden. Miss Phillips und Mrs Walker strahlen, als seien ihre kühnsten Träume wahr geworden. Aber das ist mir egal.

Ich mache mit meiner Szene weiter, ohne mich um die Reaktionen der anderen zu kümmern.  Ich bin so in meiner Rolle vertieft, dass nichts anderes zählt. Endlich komme ich zu den Schlusszeilen.

„Da kommt die Amme ja; die bringt Bericht.
Und jede Zunge, die nur Romeos Namen nennt,
spricht so beredt wie ein Engel ..."

Im Saal ist es still. Ich komme langsam wieder zu mir und stehe unter den Lichtern, die sich plötzlich ein bisschen zu grell anfühlen.

Ich schaue zu Frau Phillips hinüber. Eine
einzelne Träne kullert über ihre blasse Wange. Die Walker ist ganz benommen. Alle sind wie erstarrt. Es ist so still, dass ich mich frage, ob ich taub geworden bin.  Dann fängt Frau Phillips an zu klatschen. Ein langsamer, wohl überlegter, anerkennender Applaus. Die Walker klatscht mit. Und alle anderen Mädchen, die zum Vorsprechen gekommen sind. Ich höre Rubens begeisterte Pfiffe über den tosenden Applaus hinweg, und ein strahlendes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.

Lautes Beifallsgejohle steigt aus dem Saal auf, und Frau Walker tritt auf die Bühne. Lächelnd  gibt sie mir die Hand und flüstert mir ins Ohr: „Herzlichen  Glückwunsch. Gut gemacht, Julia."

Everything is possible - Verliebt in meinen Erzfeind Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt