21 Kapitel - Faust statt Kuss

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Ich bin jetzt in der Probe. Ich stehe seit fünf Minuten auf der Bühne und gehe meine wichtigsten Monologe durch. Ich bin ganz in den Text vertieft, als plötzlich die schwere Tür aufknarzt. Ich höre es trotz dem Lärm, den die restliche Truppe macht, die in der Aula probt. Ich rede weiter, meine Zeilen fließen mir wie von selbst über die Zunge, so süß wie Honig, aber von den wilden, schmerzlichen Gefühlen erfüllt, die mich im Augenblick fast zerreißen.

Chris hievt sich auf die Bühne hinauf und kramt seinen Text hervor. Ich spüre, wie die Wut in mir hochkocht. Das ist alles nur deine Schuld, Banner, denke ich, du bist an allem schuld!

Ich habe meine Passage zu Ende gebracht, ohne es zu merken, und Mrs Walker wendet sich einer anderen Gruppe zu, die ihre Szene probt. Ich drehe mich um, und da steht Chris vor mir, scheu, mit einem ernsten, aber seltsamen Lächeln um den Mund.

Mein Magen krampft sich zusammen, und mir wird gleichzeitig heiß und kalt, so wie immer in letzter Zeit, wenn er in meiner Nähe ist. Ich weiß selber nicht, was dieses Gefühl auslöst - vielleicht sein verwuscheltes Haar, sein leises, schiefes Lächeln, das leuchtende Blau seiner Augen - ich weiß nur, dass es stark ist, unglaublich stark. Und dass ich ihn total süß, aber tödlich finde, und dass er der einzige Grund ist, warum Ruben nicht mehr mit mir spricht.

Obwohl Ruben auch auf der Probe ist, hat er mich den ganzen Nachmittag geschnitten. Bei diesem Gedanken schießt wieder die Wut in mir hoch, und ich spüre, dass ich nicht dagegen ankomme.

Ich gehe zu Chris hinüber und funkle ihn an. Das leise Lächeln fällt von seinem Gesicht ab, und sein Ausdruck wird misstrauisch und wachsam.

„Ich möchte nie mehr darüber sprechen, was neulich passiert ist. Es macht mich ganz krank, wenn ich nur dran denke."

Chris starrt mich an, zuerst ungläubig und verletzt, dann hasserfüllt und angewidert, genauso wie ich.

„Ich will das nicht mehr", töne ich weiter, „auch wenn es nur gespielt war. Nie mehr, verstehst du? Ich hab mir gestern den ganzen Tag die Zähne geputzt, und ich muss jetzt noch fast kotzen, wenn ich dich nur ansehe. Und wenn du mich noch einmal küsst, dann bring ich dich um, das garantier ich dir."

Chris grinst nur unverschämt, was mich noch wütender macht.

„Ich hab schon halb verweste Leichen gesehen, die attraktiver waren als du, Anderson", giftet er zurück, „und du brauchst keine Angst zu haben - dich rühr ich nicht mit der Kneifzange an, und wenn du mir eine Million versprichst. Oder glaubst du vielleicht, es macht mir Spaß dich anzuschauen? Das war vorher schon schlimm genug, aber jetzt erst - würg!" Er schüttelt sich vor Ekel. „Ich kann froh sein, wenn ich keinen Allergieschock kriege und tot umfalle. Ich meine, falls du mich nicht schon vorher umbringst."

„Ich wüsste nicht, was ich lieber täte", sage ich und gehe einen Schritt auf ihn zu.

Chris beugt sich vor. „Willst du vielleicht noch 'nen Kuss von mir, Jenny? Ich weiß doch, dass du gar nicht genug kriegen kannst!"

Ich lächle eisig. „Das hättest du wohl gern, Banner. Aber vorher trete ich dir in deinen verdammten Arsch."

„,Na los, Jen, mach schon - schlag mich zusammen, bring mich um, so wie du's mir schon die ganze Zeit angedroht hast. Die Frage ist nur, was wird dein Psychiater dazu sagen?"

„Einfach ignorieren", murmle ich vor mich hin und drehe mich weg.

„,He, was ist, Anderson?", stichelt Chris weiter. „Hab ich das richtig gehört? Hast du gerade gesagt, du kannst mich nicht schlagen, weil du eine feige Memme bist, die Angst hat, sich zu wehren, so wie dein toller Vater?"

Ich verliere die Beherrschung und wirble wutschnaubend herum. „Was hast du gesagt?", flüstere ich tonlos.

Chris grinst frech. „Ich? Wieso? Ich hab gar nichts gesagt ich streit mich doch nicht mit so einem Jammerlappen, der sich sowieso alles gefallen lässt, und..."

Weiter kommt er nicht, denn im nächsten Moment schießt meine Faust vor und knallt mit voller Wucht gegen Chris' Kieferknochen. Ich sehe ihn wie in Zeitlupe auf den Boden stürzen, höre den dumpfen Aufprall, als sein Kopf gegen die Holzkante schlägt. Alle fahren herum und starren mich an. Ich kann nicht mehr atmen.

Chris liegt reglos da, der Länge nach auf dem Boden ausgestreckt. Die Walker rennt die Stufen hinauf und kniet sich neben Chris.

„Chris? Chris?", sagt sie, und ihre Stimme wird immer panischer, während sie nach seinem Puls tastet. „Chris?" schreit sie.

Chris blinzelt und stöhnt. Ich lasse erleichtert die Luft ab, die ich die ganze Zeit angehalten habe, ohne es zu merken.

„Oh, Gott sei Dank ...", ruft die Walker aufgelöst. Sie bittet einen Schüler in ihrer Nähe, die Schwester zu holen, und sagt einem anderen, dass er sich um Chris kümmern soll. Dann dreht sie sich zu mir um, und ihre Augen lodern vor Zorn.

„Was zum Teufel war das denn?", brüllt sie mir ins Gesicht.

Ich bin wie betäubt, in einem Zustand, in dem man weder sprechen noch hören noch sonst etwas tun kann. Ich stehe nur da und starre Chris an und kann selber nicht glauben, was da gerade passiert ist. Was hab ich nur gemacht?

Die Walker brüllt mich weiter an „BIST DU VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN, DU DUMMES DING GEHT MIT DEN FÄUSTEN AUF ANDERE LEUTE LOS KANNST DU DICH NICHT BEHERRSCHEN, HIMMEL NOCH MAL? WENN DU DAS NICHT SCHAFFST, KANN ICH DICH HIER NICHT GEBRAUCHEN!"

Zitternd holt sie Luft und fährt mit eisiger Stimme fort- „Und ehrlich gesagt, will ich dich auch nicht mehr." Sie zeigt auf die Tür. „Geh. Und heute Abend brauchst du dich nicht mehr blicken zu lassen. Komm morgen zu mir, dann reden wir über dein Problem."

Ich gehe langsam aus der Aula, immer noch wie betäubt, und spüre, wie mir die anderen nachstarren. Ich kann nicht glauben, was ich gerade getan habe.

Everything is possible - Verliebt in meinen Erzfeind Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt