Kapitel 2

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ALBA

Die Sonne blendete, sogar durch die geschlossenen Augen, als sie wieder zu sich kam. Der stechende Geruch von Desinfektionsmittel stieg ihr in die Nase. Völlig ahnungslos, wo sie sich befand, zögerte sie die Augen zu öffnen. Im Geist scannte sie ihren Körper, wie sie es in einer Meditationsübung gelernt hatte. Augenblicklich rollte ein wellenartiger, schrecklicher Schmerz durch ihren Körper, dessen Ursprung im Bauchraum lag.

"Das Schmerzmittel, was ich dir gegeben habe,  reicht vermutlich nicht", erklärte eine tiefe Männerstimme.  Sie klang rau und fremd und sorgte dafür, dass sich die feinen Haare auf ihrem Arm aufstellten. "Hast ziemlich viel Blut verloren."

Der Sprecher befand direkt neben ihr, das herbe Aftershave übertünchte sogar das Desinfektionsmittel. Blinzelnd öffnete sie die Augen, neugierig geworden, von den Geräuschen, die er verursachte. Er wickelte Bandagen auf und verstaute sie gerade in einem Erste-Hilfe-Kasten.

Als er innehielt und zu ihr aufsah, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Seine dunkelbraunen Augen durchbohrten sie regelrecht, schienen bis in ihre Seele zu blicken. Das markante Gesicht war mit mehreren blauen Flecken und einer Platzwunde an der rechten Schläfe übersät. Der Fremde hatte etwas Wildes an sich. Etwas, das ihn ziemlich einschüchternd wirken ließ.

"Wie fühlst du dich?", erkundigte er sich und hob eine Augenbraue, als stünde ihr das Unbehagen ins Gesicht geschrieben. Er legte seinen rechten Handrücken an ihre Stirn, um die Temperatur zu fühlen. Da sie jedoch völlig überrumpelt war und nichts antwortete, setzte er nach: "Ist dir kalt oder warm?"

Wer ist das? Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, was geschehen war, wobei sie ihn verwirrt anstarrte. "Wo bin ich?" Sie versuchte sich aufzurichten, was sich als keine gute Idee erwies, weil ihr sofort schwindelig wurde.

"Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Leg dich wieder hin." Sein Tonfall ließ keinen Raum für  Diskussionen. Mit diesem Mann würde man wohl lieber nicht diskutieren wollen, so ernst, wie er blickte. "Du bist hier  sicher. Nochmal, ist dir kalt oder warm?", wiederholte er seine Frage von zuvor, die große Hand immer noch auf ihrem Kopf ruhend.

"Kalt, würde ich sagen." Sie schluckte schwer und rieb sie mit den Händen die Seiten der Oberarme.

"Nicht gut. Vielleicht war der Blutverlust doch zu groß." Er zog die  Hand zurück und rieb sich nachdenklich übers Gesicht. Vom anderen Ende der Couch, auf der sie lag, zog er eine zweite Decke heran.

Erschrocken tastete sie ihren Körper ab. Er hatte ihr die Sportkleidung ausgezogen, die sie getragen hatte, als sie überfallen wurde.  Stattdessen trug sie ein schwarzes Hemd über dem Sports-Bra und darunter nur ein Höschen. Wahrscheinlich war es eines seiner Hemden, denn es roch nach seinem Aftershave.

"Keine Sorge", sagte er ruhig auf ihre erschrockene Reaktion. "Deine Kleidung war blutverschmiert. Wollte es nicht auf meinen Möbeln haben." Wenn das seine Art von Humor war, würde das kein guter Eisbrecher sein, dachte sie.

Er lehnte sich ein wenig zurück und verschränkte die Arme vor seiner kräftigen Brust, die unter dem eng anliegenden Shirt deutlich zu sehen war. "Auf einer Skala von eins bis zehn, wie stark sind die Schmerzen?"

"Einhundert", antwortete sie unwohl und schürzte die Lippen. Wie sollte man sich schon fühlen, nachdem einem jemand ein Messer in den Bauch gerammt hatte?

"Hatte ich auch nicht anders erwartet. Gut, dass ich die Blutung stoppen konnte. Da wollte dich jemand tot sehen."

Er hatte also miterlebt, wie ich ohnmächtig wurde, und mich wohin auch immer gebracht und zusammengeflickt, dachte sie und sah sich langsam um. Die Couch, auf der sie lag, war in der Mitte eines kleinen Apartments platziert. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Lowboard mit einem Flachbildfernseher darauf. Unter dem einzigen Fenster des Raumes befand sich eine kleine Küchenzeile, bestückt mit einem Doppelkochfeld und einer Spüle. Daneben ein kleiner, quadratischer Kühlschrank. Alles in dieser Wohnung schien seine besten Tage schon lange hinter sich zu haben. Dieser Ort wirkte völlig unpersönlich, einfach nur funktional.

Der Fremde beobachtete sie ruhig. "Du hast 16 Stunden gebraucht, um aufzuwachen. Das ist kritisch. Wir müssen dafür sorgen, dass du nicht mehr frierst, obwohl du Fieber hast", erklärte seine basslastige Stimme. Dass sie seine Wohnung mit Argusaugen untersuchte, kümmerte ihn offensichtlich nicht. Wobei es auch wirklich nicht viel zu sehen gab. Weder Fotos an den Wänden, noch irgendwo einen Hauch von Dekoration oder irgendetwas anderem. Nicht einmal der langjährigste Junggeselle der Welt würde sich so karg einrichten, dachte sie.

Wortlos stand er auf, ging ein paar Schritte um die Couch herum, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Es konnten nicht viele Schritte gewesen sein, bei dieser kleinen Wohnung. Dumpf konnte sie hören, wie eine Telefonverbindung hergestellt wurde.

"Hör zu, du musst mir Metamizol besorgen. So schnell du kannst. Und ich brauche einen bequemen Jogger von Sarah", sprach er zu wem auch immer. Kurz war es still, während der Jemand am anderen Ende der Leitung vermutlich sprach, was er letztlich mit einem knappen "Danke!" quittierte und auflegte.

"Versuch dich etwas auszuruhen. Er wird einige Zeit brauchen", erklärte er und kam zurück um die Couch, wo sie ihn sehen konnte. Allerdings ließ er offen, wer dieser Jemand war. Als sie genau das fragen wollte, begann sich der Raum zu drehen. Sie öffnete ihren Mund, konnte aber nicht sprechen. Ihre wurde schwarz vor Augen. Sie streckte noch die Hand nach ihm aus, konnte ihn aber nicht erreichen.

soulache | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt