Kapitel 22

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ALBA

Mit wild pochendem Herz stand sie vor seiner Tür. Es hatte enorm viel Überwindung gekostet, zu ihm zu fahren, doch am Ende tatsächlich auf die Klingel zu drücken fiel noch viel schwerer.

"Du bist wahnsinnig, wenn du das tust!", hatte Jayden sie getadelt, als Alba ihm gestanden hatte, zu Frank fahren zu wollen. "Haben dir die ganzen Berichte nicht die Augen geöffnet, was für ein Mensch das ist?", hallten seine Worte in ihren Ohren wider.

Ihr gegenüber hat Frank nie den Eindruck erweckt, ein von Grund auf schlechter Mensch zu sein. Zugegebenermaßen war es verstörend, zu lesen, was dieser Mann alles getan hatte und ohne Zweifel immer noch tat, doch es war eben die Sicht der Medien und nicht seine.

Trotzdem war sie nicht gekommen, um seine Wahrheit herauszufinden. Eigentlich wusste Alba gar nicht so genau, weshalb sie überhaupt zu ihm gefahren war, und je länger sie vor Franks Apartmenttür stand, umso unsicherer war sie, ob sie nicht einfach wieder gehen sollte.

Als der Drang zu gehen fast schon unaushaltbar für sie wurde, öffnete sich die Tür und präsentierte einen grimmig schauenden Frank, dessen Gesicht mehr blau als hautfarben war. Erschrocken über diesen Anblick wich Alba einen Schritt zurück. Von dort aus musterte sie ihn weiter, sodass ihr Blick über seinen nackten Oberkörper wanderte und schließlich auf der Hand hängen blieb, mit der er sich eine Verletzung am linken Oberarm abdrückte.

Frank war sichtlich verwundert darüber, sie vor seiner Tür zu finden, was man daran erkannte, dass er die Augen kurz zu Schlitzen verengte. Allerdings sagte er kein Wort, sondern gab lediglich ein tiefes Grummeln von sich, drehte sich um und ging wieder rein. Etwas verloren stand Alba noch ein paar Sekunden im Hausflur, bevor sie ihm nach drinnen folgte und die Tür hinter sich schloss.

Er setzte sich zurück auf die Couch und nahm Nadel und Faden vom dem kleinen, dunkelbraunen Tisch davor auf, während Alba sich ihm vorsichtig näherte und beobachtete. Es fühlte sich furchtbar für sie an, derart ignoriert zu werden, allerdings war die Verletzung ziemlich stark. Albas Herz krampfte bei dem Anblick. Mit etwas Abstand setzte sie sich neben ihn und sah einfach nur dabei zu, wie er sich zusammenflickte. 

Als er damit fertig war hatte er allerdings Mühe, den Faden straff zu bekommen, um ihn sauber abzuschneiden. Zögerlich streckte Alba die Hand zu ihm aus, verharrte kurz vor seinem Arm und sah ihn prüfend an, ob das in Ordnung war. Frank nickte kaum merklich, sodass sie das Ende des Fadens griff und straffte, damit er ihn durchtrennen konnte.

"Danke", sagte er und schenkte ihr damit endlich einen Hauch von Aufmerksamkeit, der Alba Aufwind verschaffte und sie dazu bewegte, nach einem steril verpackten Tupfer zu greifen, ihn mit Desinfektionsmittel zu tränken und das restliche Blut um die Verletzung herum zu entfernen.

Dieser Mann ist ein Meister darin, keine Emotionen zu zeigen, dachte Alba stumm, während er einfach nur regungslos dasaß und sie machen ließ. Oder er hat gar keine Emotionen. Aber ist das überhaupt möglich? Wenn ja, dann verbarg er sie in diesem Moment perfekt.

Sie musste etwas sagen, die Stille war schrecklich unangenehm. Außerdem drifteten ihre Gedanken, in Gegenwart seines nackten Oberkörpers, in eine unangebrachte Richtung ab. "Danke, dass du mir zwei Mal das Leben gerettet hast."

Frank hob eine Augenbraue und schenkte ihr einen durchbohrenden Blick. Alba rechnete gar nicht damit, eine Antwort von ihm zu erhalten, doch zu ihrer Überraschung sagte er: "Bist du dafür hier?" 

Sie fühlte sich ertappt, denn darauf konnte sie weder sich selbst noch ihm eine Antwort geben. Ohne weiter darüber nachzudenken hob sie die Hand etwas weiter nach oben, berührte eine Platzwunde neben seinem rechten Auge und fragte: "Warum machst du das?"

Völlig unerwartet zeichnete sich ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht ab. "Hat sich so ergeben, weil den Job sonst keiner machen wollte."

Und da war er wieder, dieser schräge Humor, den man wohl nur haben konnte, wenn man ein eiskalter Killer war. Zumindest sagte Albas Verstand, dass sie ihn für diesen halten sollte, nach allem, was sie über ihn gelesen hatte. Und trotzdem saß sie ihm unerschrocken gegenüber und fühlte eine Faszination für diese markanten Züge und die tiefbraunen Augen, die sie ohne mit der Wimper zu zucken fixierten.

Franks Züge wurden plötzlich weicher und erst dadurch bemerkte Alba, dass sich ihre Hand verselbstständigt hatte und über seine rechte Gesichtshälfte strich. Er war einfach nur ein Mann, dessen Leben komplett aus den Angeln gehoben wurde, weshalb er rot gesehen und diesen Weg eingeschlagen hatte. Das machte ihn nicht weniger menschlich, die Leute sahen nur nicht genau hin. Wenn das jemand verstehen und nachempfinden konnte, dann sie selbst.

soulache | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt