Kapitel 12

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ALBA

Die restlichen Stunden im Krankenhaus gingen letztendlich ziemlich schnell vorbei. Hauptsächlich weil Alba noch eine Dosis irgendeines Medikaments erhielt, was dafür sorgte, dass sie ganz besonders tief schlief. Am nächsten Morgen fühlte sie sich beinahe wie ein neuer Mensch.

Gegen 10 Uhr steckte eine junge Krankenschwester ihren struweligen, knall-pinken Punker-Kopf durch die spaltbreit geöffnete Zimmertür. Vermutlich war sie eine Praktikantin. "Ihre Entlassungspapiere sind fertig. In der Lobby wartet ein Mann, der Sie abholen möchte. Soll ich Ihnen helfen?", sagte sie und kaute ungeniert Kaugummi.

"Nein, danke. Es geht schon", antwortete Alba und musste innerlich schmunzeln. Die Teenagerin erinnerte sie ein bisschen an sich selbst, als sie in diesem Alter war, nur dass Alba damals keinen pinken Irokesenschnitt trug. Trotzdem fühlte sie sich früher jung und rebellisch, als könne sie es mit der ganzen Welt aufnehmen.

Die Lektion, dass man es nicht mit der ganzen Welt aufnehmen konnte, ja noch nicht einmal mit einem Bruchteil davon, lernte sie erst viel später in ihrem Leben. Sie betrachtete das Mädchen noch einen Moment, bevor deren Kopf aus dem Türrahmen verschwand und die Tür von außen geschlossen wurde.

Es dauerte eine Weile, bis Alba die kratzige, blaue Krankenhauskleidung gegen das sportlich-elegante Outfit von Davids Frau eingetauscht hatte, weil die Verletzung am Bauch natürlich immer noch das ein oder andere Mal ein paar fiese Schmerzsignale an den Körper sendete.

Der Aufzug brachte sie hinunter in den Eingangsbereich des Krankenhauses, wo sie die Lobby vergebens nach Davids lockigem Haarschopf absuchte. Einen Moment lang glaube sie, die junge Frau habe sich im Zimmer geirrt, als sie Alba informierte, doch dann fiel ihr Blick auf einen ganz in Schwarz gekleideten Mann, der auf einer in die Wand eingelassenen Steinbank saß

Er trug eine Basecap und darüber die Kapuze seines Hoodies. In dieser Aufmachung sah er nicht unbedingt unauffällig, sondern eher seltsam aus. Allerdings konnte man sein Gesicht leicht, was offensichtlich beabsichtigt war. Das Outfit passt eindeutig zu jemandem, dessen voller Name von anderen nicht ausgesprochen wird, dachte sie.

Als die schwarze Gestalt ihre Annäherung bemerkte, erhob sie sich, behielt den Kopf allerdings weiterhin gesenkt. Alba schaute sich um und erkannte die Überwachungskameras, die überall im Eingangsbereich angebracht und, sehr wahrscheinlich, der Grund für das seltsame Verhalten waren.

Aus nächster Nähe bestätigte sich schließlich der Verdacht, dass es Frank war. Sofort erlag sie wieder diesem undefinierbaren Gefühl, welches sie schon in seiner Wohnung hatte. Es war, als wäre ihr ganzes System in höchster Alarmbereitschaft, ohne zu wissen warum.

Frank seinerseits verschwendete keine Zeit, und machte sich auch nicht die Mühe, Alba zu begrüßen. Stattdessen legte er ihr die Hand auf den Rücken und schob sie zielstrebig in Richtung Ausgang. "Lass uns von hier verschwinden", murmelte er kaum hörbar, aber mit körperlichem Nachdruck.

"Danke ... fürs Abholen", versuchte Alba die merkwürdige Situation zu entspannen, doch seine Antwort war lediglich ein dumpfes Grummeln und er schob sie weiter, nach draußen zu einem großen Geländewagen, der in einer Parkbuchte der Krankenhauseinfahrt geparkt war.

Das schwarze Fahrzeug war völlig übertrieben, passte allerdings ziemlich gut zu Franks Gesamtoutfit. Die hinteren Scheiben dunkel getönt, sodass man nicht hineinsehen konnte, und die Reifen fast doppelt so groß wie die eines normalen Autos

Schon aus der Ferne machte Alba sich Gedanken, wie sie mit ihrer Verletzung in das Fahrzeug kommen sollte. Natürlich war auch der Einstieg wesentlich höher als üblich. Hätte sie an die Fähigkeit des Gedankenlesens geglaubt, wäre sie von Frank beeindruckt gewesen, als er just in diesem Moment sagte: "Ich werde dir helfen."

Die Zentralverriegelung gab ein Klicken von sich, als er den dazugehörigen Knopf auf der Fernbedienung betätigte, während die beiden sich dem Wagen näherten.

Er beschleunigte zwei, drei Schritte, um Alba die Beifahrertür zu öffnen. Dann hob er sie so entspannt an, als wiege sie nur wenige Gramm, ließ sie auf den Beifahrersitz gleiten und reichte ihr den Gurt, um sich anschnallen zu können. Alba folgte ihm mit den Augen, während er draußen vor dem SUV entlang zur Fahrerseite lief und ebenfalls einstieg.

"Wo soll ich dich hinbringen?", wollte er wissen. In einer fließenden Bewegung führte er den Schlüssel ins Zündschluss ein, drehte ihn und startete den Motor, der sofort laut zu brummen begann und das Auto vibrieren ließ.

Nur zu gern hätte sie vermieden, ihm ihre Adresse zu nennen, aber da kam sie nun nicht mehr drum herum. Er nickte, als kenne er den Block, dem sie ihm nannte, und fuhr los.

Sie erwartete gar nicht, dass man mit ihm ein so nettes, ungezwungenes Gespräch führen konnte wie mit David, aber dass er kein einziges Wort sprach, war mehr als unangenehm. Also schwiegen die beiden sich an und Alba war froh, als der Wagen nach einer halbstündigen Fahrt in die genannte Straße einbog und das Haus, in dem sich ihr Apartment befand, in Sicht kam.

Frank hielt direkt vor der Eingangstür des Mietshauses. Er aktivierte die Warnblinkanlage und ließ den Motor laufen, stieg jedoch aus, um ihr auch beim Ausstieg zu helfen. Ihre Gesichter kamen sich extrem nahe, als er sie vom erhöhten Sitz des Geländewagens nach draußen auf den Gehweg hob. So nahe, dass es Alba fröstelte, denn seine Präsenz war ungelogen beklemmend.

Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Immerhin schien dieser Mann sich rein gar nichts aus Worten zu machen und erweckte den Eindruck, dass ein Dank ihn ebenso wenig interessierte. Doch schließlich fiel ihr Sarahs Kleidung ein, die sie noch immer am Körper trug. "Wohin soll ich Sarahs Kleidung bringen?"

Frank verzog komisch das Gesicht, fast so, als würde er grinsen. "Kannst du behalten."

Verwundert sah Alba ihn an und stammelte, "Oh ... okay. Na dann ... richte ihr meinen Dank aus." Dass er dieser Bitte nachkommen würde, glaubte sie zwar nicht, aber das lag ja dann auch nicht in ihrer Verantwortung.

Gerade da, als sie sich wegdrehte und zum Hauseingang gehen wollte, fand Frank seine Stimme wieder. "Den hier brauchst du vielleicht noch ... E-l-e-n-a", sagte er und machte eine kurze Pause bevor er ihren Namen absichtlich betont vorlas.

Oh fuck! Den hatte sie komplett vergessen. Es dauerte zwei Sekunden, bis Alba sich aus ihrer Schockstarre lösen und zu ihm umdrehen konnte. In der Hand, seines linken nach vorn ausgestreckten Armes, baumelte die Armtasche, hinter deren durchsichtiger Schutzfolie ihr falscher Ausweis.

"Oh, gut. Danke, dass du ihn mitgebracht hast. Es wäre ätzend  gewesen, einen neuen zu beantragen." Am liebsten hätte sie sich selbst eine gescheuert. Noch auffälliger hättest du darauf nicht reagieren können, oder, Alba?

Aber woher hätte er wissen sollen, dass der Ausweis nicht echt war? Er hatte ihn einfach nur mitgebracht und prüfend den Namen gelesen. Ohne auch nur ansatzweise religiös zu sein betete sie zu den Göttern aller Sphären, dass es so war.

Anmerken ließ er sich auf jeden Fall nichts, zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern stieg ohne ein weiteres Wort in seinen Wagen und fuhr davon.

soulache | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt