Prolog

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Die Nacht war dunkel und stürmisch. Es regnete leicht, was es seinen Verfolgern schwerer machen sollte, ihm zu folgen. Er hatte, mit dem Sprung auf einen fahrenden Zug, einen guten Vorsprung herausgeholt, aber er wusste, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren. Er musste weiter. Er hatte es versprochen.

Das kleine Bündel in seinen Armen bewegte sich und stieß einen leisen Schrei aus. Besorgt sah er auf das kleine Mädchen hinunter und drückte sie schützend an sich. 

„Keine Sorge, wir haben es gleich geschafft. Du bist gleich in Sicherheit", murmelte er und, als würde sie diese Worte genau verstehen, beruhigte sie sich wieder und schlief seelenruhig weiter.

Vorsichtig spähte er um die Ecke. Mittlerweile war er in London angekommen und obwohl das hier eine Großstadt war, in der nicht gerade wenige Menschen lebten, waren die Straßen und Gehwege wie leer gefegt. Und trotzdem war er aufmerksam. Jedes kleinste Geräusch registrierte er. Jede Bewegung, war sie auch noch so klein und unscheinbar, nahm er ganz genau wahr.

Er war erschöpft, durchnässt und Sorgen schwirrten in seinem Kopf umher. Das einzige, was ihn gerade antrieb weiter zu rennen, war das kleine Bündel in seinen Armen. Ihre Sicherheit hatte gerade oberste Priorität. Sie war alles, was ihm von Jolanda geblieben war. Die Frau, die er über alles liebte und für die er alles tun würde. Nur hatte er nie damit gerechnet sie zu verlieren.

Dabei hatte der Abend so gut angefangen.

Die Wehen hatten am späten Nachmittag eingesetzt. Fast sofort hatte er den Arzt, den sie gleich zum Anfang der Schwangerschaft engagiert hatten, angerufen und ihn zu sich gerufen. Der Arzt war, genau wie er selbst, ein Chamäleon und hatte sofort dem Plan eingewilligt. 

Laut ärztlichen Unterlagen war Jolanda nie schwanger gewesen oder hatte ein Kind bekommen. Sie würde in keiner Krankenakte auftauchen. Genauso wenig wie er. Zumindest vorerst nicht.

Doch dann war alles so entsetzlich schief gegangen.

Die Geburt dauerte Stunden. Jolanda war erschöpft und auch er litt mit ihr mit. Er hielt ihre Hand, redete ihr gut zu und versprach ihr, dass sie ihr gesundes, kleines Mädchen gleich im Arm halten würde. Und dann kam der erlösende Schrei und die Welt schien einen Moment still zu stehen. 

Der Arzt legte ihr das Baby in den Arm und als er sie das erste Mal sah empfand er so viel Liebe, wie erst einmal zuvor in seinem Leben. Er sah Jolanda an, sah auch in ihrem Gesicht den Ausdruck von Liebe, Erleichterung und auch Trauer. Ihre Blicke trafen sich und sie lächelte.

„Es fühlt sich nicht länger richtig an...", sagte sie leise und er nickte. „Ich verstecke mich mit ihr. Ich gehe ins Ausland, solange bis ihre Aura nicht mehr menschlich ist. Wir werden eine Familie sein. Ich werde das Rudel verlassen. So wie es Flo gemacht hat. Ich... ich kann sie nicht verlieren", sagte sie und er gab ihr einen Kuss auf die feuchte Stirn. 

„Du wirst sie nicht verlieren. Ich verspreche dir, ich werde nie zulassen, dass ihr etwas passiert. Wir bekommen das hin. Wir... wir werden eine Familie sein", sagte er leise. Jolanda sah ihn an und küsste ihn dankbar. Lächelnd strich er seiner Tochter über den Kopf.

„Wie wirst du sie nennen?", fragte er leise. Jolanda sah die Kleine liebevoll an und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich habe an Evelyn gedacht. Die Leben Schenkende. Ich habe die Hoffnung, dass sie irgendwann so sein kann, wie sie ist. Dass sie es den Chamäleons ermöglicht zu leben und sich nicht länger zu verstecken", sagte sie und er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Evelyn...", murmelte er und lächelte. „Wunderschön..."

„Ich müsste euch die kleine Evelyn für einen kurzen Moment abnehmen. Ich muss sie untersuchen", sagte der Arzt leise. Jolanda nickte und vorsichtig nahm der Arzt das kleine Mädchen an sich. 

„Hallo du kleine Maus. Du bist wirklich etwas ganz Besonders", sagte er leise und wollte Evelyn gerade vorsichtig ablegen, als die Tür des kleinen Hauses krachend aufflog und ein rauer Wind, gepaart mit Regentropfen in die Stube fegte.

„Sieh einer an... Da hört man die Schmerzensschreie einer Frau, will sehen ob man helfen kann und findet ein sonderliches Baby. Menschliche Aura obwohl nur übernatürliche Wesen anwesend sind..." 

Es war ein großer, schlanker Vampir der redete. Er trug einen schwarzen Mantel, obwohl es Ende Juni war. Er bleckte die Zähne, genau wie anderen beiden Vampire, die hinter ihm auftauchten. „Grenzgänger", knurrte einer und machte einen Schritt auf den Arzt zu, der erschrocken zurückwich.

„Töte den Dämon! Wir kümmern uns um die anderen!"

So schnell wie alles ging, konnte er kaum realisieren, was passierte. Der Arzt drückte ihm das Baby in den Arm, drehte sich um und verwandelte sich noch im Sprung in einen Bären und stürzte sich auf den kleineren der drei Vampiren. Jolanda war aufgesprungen, obwohl sie noch so geschwächt war.

„Bring sie in Sicherheit!", schrie sie und warf sich schützend zwischen ihn und die anderen beiden Vampire. Er wollte etwas tun, ihr helfen, aber bevor er sich rühren konnte, schlug der Bär dem anderen Vampiren gegen den Kopf und schleuderte ihn gegen die Wand. 

„Bring sie weg!", schrie Jolanda und dann setzte er sich in Bewegung. Er rannte, ignorierte den Regen und drehte sich nicht um. Schützend drückte er seine Tochter an sich, um sie vor dem Wind und dem Regen zu schützen.

Er hörte schnelle Schritte hinter sich und wusste, dass mindestens einer der Vampire ihm folgte. Er beschleunigte seine Schritte, rannte auf die Eisenbahnbrücke zu und hörte, ganz in der Nähe, den herannahenden Zug. In seinem Kopf hörte er immer noch Jolandas verzweifelte Schreie. 

Bring sie in Sicherheit! Bring sie hier weg! Er musste seine Verfolger loswerden, bevor er bei Susan ankam. Er durfte nicht riskieren, dass sie herausfanden, wo seine Tochter war. Er hatte es versprochen.

Im selben Moment, als er auf der Eisenbahnbrücke ankam, fuhr der Zug darunter hindurch und ohne groß nachzudenken, sprang er ab und noch im Flug verwandelte er sich in einen Adler. Mit seinen Füßen griff er nach Evelyn und hielt sie vorsichtig fest. Er wagte einen Blick nach hinten und sah eine Gestalt im wehenden, schwarzen Mantel auf der Brücke stehen.

Und jetzt stand er, im regennassen London, mitten in der Nacht in einer Seitengasse und hatte seine Tochter fest im Arm. Von seinen Verfolgern war nirgends eine Spur zu sehen. Hatte er sie wirklich abgehängt? War seine Tochter wirklich in Sicherheit?

Er sah in das schlafende Gesicht seiner Tochter und ging langsam weiter. Sie war in Sicherheit. Aber für wie lange? Für Vampire war es ein Leichtes, sie aufzuspüren. Wenn sie älter werden würde, würde sich ihre Aura unweigerlich ändern. Übernatürliche, die sie zufällig treffen würde, würden dahinter kommen. Sie ist nur sicher, solange sie als Mensch gesehen wird...

Während er zu seinem Ziel lief, änderte er selbst seine Aura. Er brauchte die Magie der Hexen um tun zu können, was er vorhatte. Es war riskant und er wusste, dass diese Art Schutzzauber sehr stark sein würde. Ich hab es Jolanda versprochen. Ich werde niemals im Leben zulassen, dass unserer Tochter irgendwas passiert!

Vorsichtig strich er seiner Tochter über die Wange. „Es wird alles gut. Du bist in Sicherheit Evelyn...", murmelte er leise und spürte, wie ein leichtes Kribbeln durch seine Finger ging. Ein Zeichen dafür, dass der Zauber funktionierte. 

„Es wird alles gut. Du bist in Sicherheit Evelyn. Dir wird nichts passieren und du bist in Sicherheit...", sprach er leise weiter, während er bereits das Haus sah, in dem seine Tochter aufwachsen würde. Das Licht war aus und er vermutete, dass Susan bereits schlief.

„Du bist in Sicherheit Evelyn. Du wirst sicher sein. Du wirst geliebt. Du bist in Sicherheit und dir wird nichts passieren. Du bist in Sicherheit", vollendete er seinen Zauber und drückte ihr einen Kuss auf die kleine Stirn. Dann trommelte er, mit der freien Hand, gegen die Haustür. 

Kurz darauf hörte er drinnen Geräusche, dann Schritte. Dann öffnete sich die Tür und Susan stand müde und verschlafen vor ihm. Als sie ihn sah und einen Blick auf das kleine Bündel in seinem Arm warf, war sie hellwach.

„Ich dachte ihr würdet sie erst in ein paar Tagen bringen", sagte sie und ließ ihn ins Haus. Das erste Mal konnte er sich entspannen und eine riesen Last fiel ihm von den Schultern. Und dann brach er weinend zusammen und erzählte ihr die ganze Geschichte.

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