Prolog

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November, 23ᵗʰ, 1992


Nolan

Da waren eins, zwei, drei Bilder an der Wand, die mir gegenüber stand. Auf ihnen war folgendes zu sehen: Auf dem ersten Foto sah man ein Kind, das kaum älter als drei Minuten sein konnte. Es war schrumppelig, besaß einen leichten Flaum an Haaren und war in eine dicke Decke gewickelt worden. Jemand, vielleicht die Mutter, hielt das Kind in den Armen und strich sanft über die Wange des Kindes.

Das zweite Bild zeigte eine Frau, ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war, aber sie musste in dem Alter meiner Mom sein. Sie hatte blondes Haar und ein breites Lächeln auf den Lippen. Sie schaute nicht direkt in die Kamera, sondern viel mehr hindurch, so als wäre hinter dem Fotografen etwas unglaublich schönes zu sehen.

Ich drehte mich um, doch da war nur meine Stuhllehne und die Gegenwand zu sehen. Ich drehte mich zurück und betrachtete das letzte Bild.

Auf ihm wurde ebenfalls eine Frau abgebildet. Sie war alt, sehr alt sogar, sie basaß überall Falten und trug eine Brille, die ihre Augen ganz groß machten. Dadurch erkannte ich die Tränen in ihren Augenwinkeln. Sie hielt die Hand einer anderen Person, wer genau, konnte ich nicht sagen, weil das Bild abgeschnitten wurde. Sie wirkte aber nicht traurig, sondern überglücklich, was ich nicht verstand. Wie konnte jemand vor Freude weinen? Das ging doch überhaupt nicht.

Ich starrte die Fotocollage jetzt schon eine ganze Weile an, aber konnte rein gar nichts draus lesen. Meine Mom hatte mir mal gesagt, dass Bilder einen Moment festhielten, der bis in die Ewigkeit andauern sollte, nur welche Momente waren auf den Fotos abgebildet, die ich gerade vor mir sah? Ich schüttelte den Kopf und ließ meine Augen durch den kleinen Raum gleiten.

Ich zählte zwei, vier ... acht Stühle, oh, und zwei Sessel, die an der hintersten Wand platziert wurden. Ich saß auf einer der Holzstühle, die allerdings ziemlich unbequem waren. Eigentlich hätte ich viel lieber in einem der Ledersessel Platz genommen, die sahen von hier aus viel bequemer aus, aber mein Dad hatte gesagt, ich soll genau hier sitzen bleiben und mich nicht bewegen, bis er mich holen kommt. Das war jetzt fünf, sieben ... neun Minuten her. Der Zeiger war ganz genau um neun Stellen weitergewandert, ja.

Er hatte mir nicht gesagt, warum ich hier warten solle, nur, dass er sich um ein paar Angelegenheiten kümmern würde, die meine Mom betrafen. Meine Mom konnte manche Dinge einfach nicht mehr selber tun, sie hatte dafür einfach keine Kraft. Aber sie hatte mir gesagt, dass jeder mal einen schlechten Tag hatte, und es okay war, nach Hilfe zu fragen. Nur zogen sich ihre schlechten Tage schon über mehrer Wochen oder Monate, oder sogar ein Jahr? Ich weiß es nicht mehr.

Mein Blick flog weiter und ich entdeckte zwei Pflanzen auf dem Fensterbrett und einen großen Blumentopf ganz hinten in der rechten Ecke. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich die Tür, ein großes Fenster, durch das man in den Flur blicken konnte und einen Wasserspender. Nicht diese Neuen, wo man auf einen Knopf drücken musste, damit das Wasser in einen Papierbecher lief, sondern ein ganz alter. Er war aus Metall und sicherlich nicht befüllt. Dabei hatte ich so großen Durst.

Ich warf einen Blick in Richtung Fenster, doch ich konnte meinen Dad nirgendwo entdecken. Er hatte gesagt, ich darf mich nicht von der Stelle rühren, aber mein Mund war auf einmal ganz trocken ... vielleicht könnte ich also kurz zum Wasserspender, um etwas zu trinken. Nur was ist, wenn er mich dabei erwischt, wie ich ihm nicht gehorchte? Würde er dann sauer werden? Ich mochte es nicht, wenn mein Dad sauer wurde. Er schrie und schrie, bis ihm die Luft ausging.

Vielleicht war es also keine gute Idee ... vielleicht war ich aber auch einfach schnell genug, um zum Wasserspender zu rennen, etwas zu trinken und mich auf den Stuhl zu setzen, bevor er überhaupt reinkam. Er würde also gar nicht merken, dass ich mich bewegt hatte.

The Warren-Games | (Broken Billionaires, #2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt