Kapitel 1

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Steine lösten sich unter ihren Füßen, rasten den Abhang hinunter, doch die junge Frau hetzte weiter. Auf der anderen Seite des Gipfels herrschte ein ihr unbekannter König über ein fremdes Volk. Lieber rannte sie ins Ungewisse als länger alle Schikanen zu ertragen. Nur fort aus diesem verflixten Land, in dem man sie ihrer Freiheit beraubt hatte. Weil der Fürst ein Auge auf sie geworfen hatte. In die Sklaverei gezwungen, obwohl sie sich nichts zuschulden hatte kommen lassen.

Es knackte weiter unten am Weg, hinter einer Biegung. Ihr Herz klopfte wild. Waren die Häscher ihr so dicht auf den Fersen? Sie beschleunigte ihre Schritte. Niemals würde sie dorthin zurückkehren. In die makellosen Hallen des Schlosses, in denen Neid und Missgunst herrschten. Wo die adeligen Männer junge Frauen in den Gehorsam zwangen, sich ihnen erbarmungslos aufdrängten.

Sie war frei geboren, frei würde sie sterben.

Ihr Blick suchte den Pfad vor ihr ab. Im vergangenen Spätherbst abgeworfene Nadeln der am Wegesrand stehenden Lärchen hatten sich wie ein Fundament um die festgetretenen Steine gelegt. Die Festigkeit war trügerisch. Zu schnell lockerten sich Kiesel, lösten eine kleine Gerölllawine aus, die donnernd in die Tiefe rauschte. Vereinzelt standen noch Eichen zwischen den Nadelbäumen, doch ein Stück weiter wurden sie von Ulmen und Eschen abgelöst.

Eine tiefe Männerstimme fluchte hinter ihr herzhaft, scheuchte sie in Richtung Gipfel. Inständig betete sie, dass die Verfolger ihr nicht ins fremde Königreich folgten. Es hieß, Späher bewachten die Grenze. Sie fingen jeden Menschen, der es wagte, ihr Territorium zu betreten und führten ihn ihrem König vor.

Das Mädchen überlegte fieberhaft. Die Wachen würden bemerken, dass man sie verfolgte, ihr keine Wahl ließ, wenn sie dem Weg weiter folgte. Ihr Blick huschte zum Dickicht. Das war natürlich ebenso eine Möglichkeit. Ein Lächeln formte sich auf ihren Lippen. Jetzt war es noch zu früh, doch dicht bei der Grenze bot es Schutz.

Sie lief weiter über den Pfad, forderte ihren müden Körper. Ihre Beine brannten genauso wie ihre Lungen von der Anstrengung. Blasen bedeckten ihre Fußsohlen, die in Schuhen aus Holz steckten. Das unnachgiebige Material gänzlich ungeeignet für eine Flucht.

„Bleib stehen!"

Sie sah sich zu dem Mann um, dessen wütende Stimme sie an die Gepflogenheiten am Hofe erinnerten. Einer der verflixten Wachen. Sein Begleiter ein Stück hinter ihm. Sie holten stetig auf.

Erneut beschleunigte sie ihre Schritte. Ihr Herz schlug hart gegen den Rippenbogen. Ihr Atem klang abgehackt. Lange würde sie es nicht mehr durchhalten. Der Weg wurde steiler, doch sie kämpfte sich weiter den Berg hinauf. Wo war nur die rettende Grenze? Bäume wuchsen einige hundert Meter entfernt dem Himmel entgegen. Erweckten den Eindruck, dass der Pfad dort endete. Doch je näher sie kam, desto deutlicher sah sie, wie er scharf nach links abbog.

„Bleib gefälligst stehen. Du entkommst uns eh nicht." Erneut schien er dichter herangekommen zu sein.

Sie wagte es nicht, sich umzusehen, eilte weiter vorwärts. Kurz nach der Biegung blieb sie an einer Baumwurzel hängen, die sich aus dem Erdreich gelöst hatte und wie ein halbgestrecktes Bein Wanderern ebendieses stellte. Der Schuh rutschte ihr vom Fuß, fiel klappernd auf einen Stein. Das Mädchen stützte sich an einem Stamm ab, zog den anderen Holzschuh aus und warf ihn zur Seite. Das lästige Kleid gerafft, mobilisierte sie ihre letzten Kräfte und rannte den Weg entlang. Das Blut rauschte in ihren Ohren, es flimmerte vor ihren Augen.

Eine scharfe Kurve nach rechts. Endlich sah sie die ersehnten Grenzsteine, die fein säuberlich aufeinandergestapelt dalagen und sie einluden, die Grenze zu überschreiten. Eine gelungene Flucht in ein fremdes Land. Für einen Moment vergaß sie jegliche Erschöpfung, die ihre Schmerzen begleitete und hetzte zum Steinhaufen. Statt ihn zu umrunden, setzte sie zum Sprung an.

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt