Kapitel 31

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Sina roch das Dorf, bevor sie es sah. Ein letzter Rest Rauch hing von den heruntergebrannten Feuern in der Luft, als sie sich im Morgengrauen den Häusern näherte. Sie blieb stehen, presste das in Tuch eingewickelte Büchlein an ihre Brust. Seit dem Abschied von Romanu hatte sie jeden Abend einige Seiten der Geschichte gelesen. Über ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das sich in einen Prinzen verliebte. Hatte die Prinzessin zielsicher ausgesucht. War es Absicht?

Sie seufzte. Der Unterschied zum Buch war, dass es für sie und Romanu kein gemeinsames glückliches Ende gab. Der Vampir hatte sie freigegeben, entgegen dessen, was er sich selbst wünschte. Er hatte gegen seine Gefühle gekämpft, gegen den Drang, ihr zu folgen und sie zurückzuholen. Sein gepeinigter Schrei der eines waidwunden Tieres. Sie war kurz davor gewesen, umzudrehen, und sich in seine Arme zu werfen. Hätte sie sich nicht in dem Moment daran erinnert, was ihr Vater von ihr erwartete.

Endlich würde er stolz auf sie sein und sie in den Reihen der Erwachsenen begrüßen. Noch nie war jemand nach so langer Zeit ins Dorf zurückgekehrt. Sie konnte nur raten, was mit den anderen Mädchen geschehen war. Wie viele hatten sich aus Verzweiflung selbst getötet oder waren von Spitzzähnen versklavt worden? Gab es mehr Frauen wie die Vedma, die das Leben von Fabiu gerettet hatte, indem sie ihn wie ein eigenes Kind säugte? Im Verborgenen lebend, fern der Heimat?

Sina seufzte. Sie sehnte sich danach, mit Romanu zu reden oder einfach nur seiner Stimme zu lauschen. Warum hatte sie ihn nicht gebeten, sie mitzunehmen? Sie zog die Augenbrauen hoch, als die Erkenntnis langsam zu ihr durchdrang. Ihm hätte sie irgendwann verraten, dass sie eine Vedma war. Ihm hätte sie freiwillig gedient. Ein Gefühl, von dem die Dorfältesten niemals erfahren durften, sonst verwehrten sie ihr sämtliche Anerkennung.

Lob. Beachtung. Wie lange schon hatte sie danach verlangt? Seit ihrer Kindheit. Seit er ... Sie brachte es nicht fertig, den Gedanken zu Ende zu führen. Was ihr Vater damals getan hatte, gehörte zum normalen Tagesablauf in einem Vedmadorf. Wenn beide Elternteile starben, waren die Kinder sich selbst überlassen. Wer nicht stark genug war, überlebte es nicht. Manchmal reichte der Verlust der Mutter, dass ein Mädchen sich selbst versorgen musste. Wer diese Zeit durchstand, wurde zäher, willensstärker. So wie sie.

Sina straffte die Schultern, setzte sich wieder in Bewegung. Frei von jedem Zweifel schritt sie auf das Dorf zu. Wachen waren hier überflüssig. Vampire wagten es nicht, in König Ragnars Reich einzudringen. Die alten Absprachen zwischen den Herrschern sicherte ihrer Art das Überleben. Würden die Spitzzähne erfahren, dass hier Vedma lebten, sähe das anders aus. Krieg und Verfolgung wären die Folge. Vorbei die Zeit, in der sie in Frieden leben durften. Sie schüttelte den Kopf, verscheuchte die Bilder, die sich ihr unerbittlich aufdrängten.

Sie lief zum heruntergebrannten Hauptfeuer und warf Holz auf die glimmenden verkohlten Holzstücke. Es dauerte nicht lange und kleine Flammen züngelten wie Schlangen an der frischen Nahrung empor. Immer höher wuchsen sie, begleitet von Knistern und Knacken. Aus einigen der Häuser – Hütten traf es eher – drangen Geräusche zu ihr. Menschen, die aufstanden, um draußen nachzusehen. Sie positionierte sich gut sichtbar vor dem Feuer, das Buch fest an ihre Brust gedrückt. Niemand im Dorf konnte lesen, außer ihr. Zu was machte es sie? Lesen und Schreiben waren keine Fähigkeiten, die sie hier zum Überleben benötigte. Würde sie wieder nur dafür belächelt werden?

Das Gewicht der zwei Messer hing schwer an ihrer Hüfte. Eine Erinnerung daran, dass sie Vampire getötet hatte. Ehre und Rum für einen Mord, Verachtung für eine friedliche Fähigkeit. So funktionierte das Zusammenleben hier. Die erste Tür öffnete sich. Sina presste fest die Lippen aufeinander. Sie hätte doch mit Romanu in seine Heimat kehren sollen, doch nun war es zu spät. Sie richtete den Blick auf den Mann, der als Erster aus einer der Hütten trat. Sah zu, wie sein misstrauischer Gesichtsausdruck sich wandelte, das Feld für etwas anderes räumte. Erstaunen. Ein Laut der Überraschung verließ seine Lippen, bevor er auf sie losstürmte. Energisch riss er sie an seine Brust. Nichts Sanftes an seiner Umarmung und doch lehnte Sina sich an den Mann, dessen Körper vor Aufregung zitterte.

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt