Hermanus zeigte auf eine Ansammlung von Bäumen. Die Blicke seiner Schützlinge folgten seiner Geste. Seit eine Grenzwache von dem Mädchen berichtet hatte, verfolgte er es mit der Gruppe Neuanwärter, die ihm unterstellt waren. Einer entflohenen Sklavin nachzustellen, die aus einem benachbarten Reich stammte, brachte Vorteile mit sich. Sie kannte sich einerseits nicht im Gelände aus, andererseits hatte sie keine Vorstellung davon, wer ihre Gegner waren. Das verschaffte ihm genügend Zeit, seinen Schülern etwas beizubringen, bevor er die junge Frau einfing.
„Ich höre ihren Herzschlag", wisperte einer, Romanu.
Hermanus nickte ihm aufmunternd zu. Der Mann stammte aus einem anderen Land, war von seinem König zum Fürsten dieses Herrschaftsgebiets geschickt worden, um seine Ausbildung zu erweitern. Keine unübliche Praxis zwischen befreundeten Herrschern. „Was nimmst du noch wahr?"
„Sie scheint erschöpft zu sein und dennoch auf der Hut." Romanu zog die Stirn kraus. „Ihr Puls ist schwach und gleichzeitig unregelmäßig. Als ob sie fürchtet, entdeckt zu werden. Sollten wir sie nicht lieber fangen, damit sie sich nicht verletzt?"
„Nein. Sie hat bisher gezeigt, dass sie umsichtig ist. Vielleicht überrascht sie euch noch mit ihrem weiteren Verhalten." Er überlegte einen Moment. „Wir sollten ihr allerdings zeigen, dass sie verfolgt wird. Macht Geräusche, treibt sie Richtung Schlucht. Ich möchte sehen, wie sie versucht, der misslichen Lage zu entkommen."
Am Ende würden sie das Mädchen zu ihrem Fürsten bringen. Wer einmal in Unfreiheit gelebt hatte und dieser entfloh, galt als vogelfrei. Eine gängige Praxis vieler Herrscher war es, die geflohenen und gestellten Sklaven für ihre Flucht auszupeitschen. Sein König war da keine Ausnahme. Es gab viele Wege, die Leibeigenen zum Gehorsam zu zwingen. Die Peitsche war nur ein Mittel. Bei Frauen reichte es oft, sie einzusperren, sie ihrer sozialen Kontakte zu berauben. Wer klug war, gehorchte und diente, ohne Probleme zu verursachen. Sie fügten sich, ohne eine Flucht in Betracht zu ziehen. Diese Sklavin dagegen würde Scherereien bringen.
Kurz zuckten seine Mundwinkel. Das Mädchen hatte eine letzte Chance, ihnen zu entkommen. Aus der Schlucht gab es einen Weg hinaus, wenn man leicht und flink war. Seine Schützlinge wussten nichts davon. Sie erwarteten, die Beute in eine Falle zu jagen, aus der es kein Entrinnen gab. Doch schaffte die Kleine es, hinaufzuklettern, waren ihre Verfolger dazu gezwungen, einen Umweg zu gehen. Das verschaffte ihr Zeit, gab ihr eine Möglichkeit, sich vor ihnen zu verbergen oder ihnen sogar zu entkommen. Sie war nicht dumm, bewegte sich für einen Menschen viel zu sicher durch ihr unbekanntes Gelände. Eine Ahnung beschlich ihn. Seine innere Stimme wisperte ihm zu, was das Mädchen in Wirklichkeit war. Erwies sich sein Bauchgefühl als richtig, war es besser für die Kleine, ihnen und anderen ihrer Art zu entrinnen. Doch das lag einzig an ihrem Können und Wissen, nicht in seiner Hand.
Der Vampir sah zu, wie einige seiner Schützlinge dichter an das Versteck der entflohenen Sklavin heranschlichen. Er bemerkte ebenfalls, wie Romanu sich dabei verspannte und seinen Begleitern einen finsteren Blick zuwarf, als er sich unbeobachtet fühlte. Der junge Mann war Menschen gegenüber freundlicher aufgeschlossen. Ob es an seinem Charakter oder der Haltung seines Fürsten lag, wusste Hermanus nicht. Doch einer Sache war er sich schmerzlich bewusst. Fingen sie das Mädchen ein, würde er es ständig im Auge behalten müssen und nicht jedem erlauben, sich der Kleinen zu nähern. Wenn seine Vermutung stimmte, war es besser, sie von allem abzuschirmen. Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. Die Situation, in der er sich befand, gefiel ihm nicht im Geringsten.
Ein Stück Holz knackte. Hermanus sah zu Romano, der einen zerbrochenen Zweig achtlos auf den Boden warf. Ein anderer seiner Schützlinge strich über die Blätter eines Busches, sodass es unnatürlich laut raschelte. Dem Mädchen sollte nun bewusst sein, dass es nicht mehr allein in diesem Teil des Waldes war. Der Vampir duckte sich hinter einen Baum. Seine Begleiter verschwanden ebenfalls in den Schatten, damit die Kleine nicht sofort erkannte, wer ihr folgte, sondern rein von den Geräuschen zur Schlucht getrieben wurde.
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Vedma
VampireAls Sina auf der Flucht vor den Wachen des Fürsten ihrer Heimat in ein fremdes Land eindringt, ahnt sie noch nicht, welche düsteren Gestalten dort leben. Rasch findet sie heraus, dass es die Monster aus den Erzählungen der Dorfältesten sind. Wenn d...