Kapitel 45

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Sina beobachtete vergnügt, wie Eleon sich auf seinem Platz mühsam zusammenriss, um nicht von Unruhe getrieben auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Sie beneidete ihn nicht darum, dass er zur Rechten von König Veli saß. Ihr Schwiegervater hatte die Gelegenheit am Schopf gepackt und den Seher zu seinem Berater gemacht. Vorläufig schaute Eleon zwar nur zu, um sich die Gepflogenheiten am Hof zu gewöhnen, doch sah man ihm an, dass diese Ehre ihn überwältigte. Der Grund, weshalb er nicht hatte bleiben wollen und Hermanus sich den zeternden und flehenden Seher nach halber Strecke über die Schulter geworfen hatte. Dessen verdutzter Gesichtsausdruck hatte sowohl Sina als auch Romanu zum Lachen gebracht.

Sie ließ ihren Blick durch den Thronsaal wandern. Wie schon so oft, seitdem sie im Palast lebte. Ihr gefiel der Unterschied zu anderen Königreichen. Der Thron stand ebenerdig. Keine Stufen, die zu einem protzigen Prunkstuhl hinaufführten. Vom hinteren Ende des Saals, wenn viele Gäste anwesend waren, sah man den König kaum. Doch genau so wünschte er es sich. Um seinem Volk zu demonstrieren, dass er einer von ihnen war und sie sich nicht scheuen brauchten, ihn in der Not um Hilfe zu bitten.

Die Wachen ließen erneut eine kleine Gruppe in den Saal. Einige Männer und Frauen aus der Stadt. Letztere waren in farbenfroh bestickte Kleidung gehüllt. Stickerinnen, die mit ihren Ehemännern, meist Webern, Bekleidung für die Bewohner herstellten. König Veli plante, durch Handel ihren Wirkungskreis zu vergrößern, und hatte sie daher zum Gespräch gebeten. Mit halbem Ohr hörte Sina den Erörterungen zu. Wie viele Webstühle für die höhere Menge an Tuch notwendig wären. Ob mehr Stickerinnen ausgebildet werden müssten und ob dafür genügend Arbeitskräfte in der Stadt lebten. Eleon beugte sich zum König und flüsterte ihm etwas zu. Dieser nickte anerkennend.

„Wir werden Boten in die umliegenden Ortschaften schicken, um fähige Frauen und Männer anzuwerben. Unsere Stadt wächst, entwickelt sich weiter. Ich bin mir sicher, dass sich einige Familien entscheiden werden, ihre Heimatdörfer zu verlassen, um hier Fuß zu fassen. Ihr könnt gehen."

Die Menschen verneigten sich respektvoll. Noch etwas, das Sina gefiel. Ihr Schwiegervater erwartete nicht von ihnen, dass sie vor ihm knieten oder sich gar auf den Boden warfen. Respekt konnte man auch anders zeigen, wie er immer wieder betonte. Und die Leute respektierten ihn, weil sie ihn schätzten. Es war keine Einschüchterung notwendig, um seine Pläne durchzusetzen. Alle dienten ihm aus freien Stücken.

„Wir haben noch ein Geschenk für die Gemahlin unseres Prinzen, Herr." Eine ältere Frau trat vor, neigte höflich den Kopf. „Wir würden es ihr gern überreichen." Die Stickerin wandte sich Sina zu, überreichte ihr mit ausgestreckten Armen ein Stück Tuch. Penibel einen Abstand einhaltend. Aus reiner Höflichkeit, nicht aus Furcht. Und, wie ihr die Königin erklärt hatte, weil die Bewohner der Stadt von der Schwangerschaft wussten und darauf bedacht waren, dass ihre Prinzessin keinen Schaden durch irgendeine Krankheit nahm.

„Ich danke Euch für das Geschenk." Sina entfaltete das Baumwolltuch. Bunte Plattstickereien zierten die Ränder. Blumen, kleine Waldtiere und Sonnen in unterschiedlichen Größen. „Es ist wunderschön."

„Es freut uns, dass es Euch gefällt, Prinzessin." Die Frau neigte zum Abschied den Kopf und verließ dann zusammen mit den anderen Stickerinnen und Webern den Thronsaal. Tränen sammelten sich in Sinas Augen, als sie mit den Fingerspitzen die kunstvollen Stickereien nachfuhr. In ihrem Dorf hatte sie nie etwas Vergleichbares erhalten. Doch hier in der Stadt versuchten die Bewohner, sich mit kleinen Aufmerksamkeiten fast schon zu übertrumpfen. Tischler hatten sich mit einem Maler zusammengetan und eine Wiege für ihr Ungeborenes gebaut und kunstfertig bemalt. Vom Schuster hatte sie weiche Schuhe aus pflanzlichen Materialien bekommen, mit denen sie lautlos durch die Gänge des Palastes schleichen konnte. Ein Korbflechter hatte ihr einen Weidenkorb geschenkt, damit sie das Kind leichter tragen konnte. Sie seufzte leise, schrak von einem Schatten, der plötzlich auf sie fiel, hoch.

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt