Kapitel 42

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Sehnsüchtig schaute Sina vom Balkon hinüber zum Hafen. Auf der in einem sanften Gelbton gestrichenen Brüstung lehnend, genoss sie die Aussicht, die sich ihr bot. Strahlendweiße Segel vor dem wolkenlosen Himmel. Das Sonnenlicht, das sich auf den Wellen spiegelte und pausenlos tanzte. Möwen glitten mühelos dahin oder tauchten hinab zum Wasser, um einen Fisch zu fangen. Ihr Kreischen, wenn einer der Vögel erfolgreich war, der Kampf in den Lüften um die Leckerei, brachten Sina zum Schmunzeln. Tief atmete sie die würzige Seeluft ein. Salz, Algen, Freiheit. Nie zuvor hatte sie sich so wohl gefühlt wie an diesem Ort. Dabei waren sie erst am Vorabend angekommen.

Seufzend wandte sie sich ab, lief zurück ins Zimmer und sah sich um. Das einladend breite Bett, auf dem sie am Morgen in Romanus Armen liegend aufgewacht war. Das Holz hatte einen warmen honigfarbenen Farbton. Ganz wie die Möbel, die in sorgsam abgemessenen Abständen an den Wänden standen. Ein großer Kleiderschrank, eine Kommode, ein Waschtisch mit einer Porzellanschüssel. Zwei Stühle und ein kreisrunder Tisch, obendrein eine schwere Truhe mit metallenen Beschlägen, die in einer Ecke stand. Ihr Blick wanderte weiter, blieb an dem Schminktisch hängen, den Diener vor wenigen Augenblicken hineingetragen hatten.

Sina setzte sich auf den weich gepolsterten Hocker und betrachtete ihr Spiegelbild. Eine junge selbstbewusste Frau sah ihr entgegen. Die dunklen Ringe unter den Augen, die sie seit dem Verlassen ihres Dorfes begleitet hatten, waren verschwunden. Sie seufzte leise. Hier an der Küste schienen die Schatten der Vergangenheit, ihre abscheulichen Taten weit weg. Kein Albtraum hatte sie in der letzten Nacht heimgesucht, doch wie lange würde das anhalten? Blut, das sich nicht abwaschen ließ. Tote Augen, die sie stumm anstarrten.

Sie schloss die Lider, lauschte den Wellen des Meeres, zu ihr getragen von einer sanften Meeresbrise, die mit ihren Haaren und den Vorhängen bei der Balkontür spielten. Sina atmete tief durch. Oh wie sehr sehnte sie sich danach, mit Romanu durch die Gischt zu laufen und die Zehen im feuchten Sand zu vergraben! Einmal noch nur ein einfaches Mädchen zu sein. Nicht die Prinzessin, die sie nach der Eheschließung sein würde. Umgeben von Dienerinnen und Edelleuten, die jedem ihrer Schritte unerbittlich folgten. Die ihr Verhalten an uralten Regeln für das höfische Leben maßen. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Wie konnte sie nur vor ihnen bestehen?

„Sina?" Leichte Schritte auf den rotbraunen Bodenfliesen. Das verräterische Klicken von Männerstiefeln. Romanu stellte sich hinter sie, massierte sanft ihren oberen Rücken. „Mein Vater hat mich von weiteren Aufgaben für heute entbunden. Möchtest du mich zum Strand begleiten?"

Langsam ließ sie die Hände sinken und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr Gefährte, der wie ein Fels in der Brandung hinter ihr stand, sie stützte und sie umsorgte, wenn sie ihn brauchte. Der zukünftige König, der eine starke Gemahlin verdiente. Eine, die nicht von Selbstzweifeln geplagt wurde. Sie dachte an die Worte seiner Mutter, während einer der vielen Unterbrechungen ihrer Reise.

Keine Frau wird als Königin geboren. Wie alle müssen die Regeln am Hofe lernen, die Etikette für den Umgang mit dem Adel. In unseren Gemächern oder mit unserer Familie dürfen wir wir selbst sein. Doch beim Aufeinandertreffen mit anderen haben wir ein Bild aufrechtzuerhalten, uns ihnen so zu zeigen, wie sie es von uns erwarten. Keine Angst, ich werde dir dabei helfen. Mein Mann hat richtig entschieden, Romanu und dir noch einige Jahre Zeit zu geben.

Worte, die gleichzeitig tröstend und beängstigend waren. Erneut stieß Sina einen Seufzer aus. Jetzt war nicht der Moment, sich seinen Ängsten unterzuordnen. Das war es nie. Mit der ihr zugesicherten Unterstützung würde sie auch diese Hürde meistern. Sie stand auf, wandte sich ihrem Gefährten zu. „Ich würde gern mit dir an den Strand gehen. Und an den Schiffen im Hafen entlang. Ich möchte alles lernen, was ich über unsere Heimat wissen muss."

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt