Kapitel 25

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Die Zeit verging. Tage wurden zu Wochen, Wochen zu Monaten. Sina genoss das Leben bei der Wachtruppe. Jeden freien Augenblick nutzte sie zum Lesen und Schreiben. Romanu und Taran wurden es nicht müde, sie zu unterstützen und zu noch größeren Anstrengungen zu ermutigen. Jeder behandelte sie mit Respekt, selbst Razvan hatte seine erniedrigenden Kommentare eingestellt.

Die Auszubildenden verrichteten ihre Dienste nun öfter am Hofe. Sie hielten nachts Wache oder standen am Tag über Stunden still bei Besprechungen im Thronsaal. Dies gab Hermanus neuen Freiraum, der ihn gerne nutzte, um Sina im Zweikampf zu trainieren. Immer weit entfernt von fragenden Blicken, im Wald oder auf einer Lichtung. Unzählige Tage verbrachte sie damit, zur Höhle beim Wasserfall hinunterzuklettern und ohne Verschnaufpause wieder hinauf. Ihr Körper wurde sehniger, ausdauernder. Sie verfügte über eine Kraft und Wendigkeit wie nie zuvor. Eine richtige Kriegerin, dachte sie versonnen. Was die Männer im Dorf – allen voran ihr Vater – nicht geschafft hatten, erreichte ein Vampir schier mühelos. Es gefiel ihr, Hermanus zu beweisen, dass sein Vertrauen in sie gerechtfertigt war. Ermunterungen, niemals Demütigungen oder Strafen.

Doch die Zeit des Abschieds rückte unbarmherzig näher. Oft lag sie nachts eine Weile wach und überlegte ihr weiteres Vorgehen. Vater und Sohn würden fortziehen, sich einem anderen Herrscher unterstellen. Konnten sie sich nicht einfach irgendwo niederlassen, wodurch sie bei ihnen bleiben konnte? Sich Romanu anzuschließen war eine zweite Möglichkeit, doch er kehrte zu seinem Königreich zurück. Eine Festung voller Vampire, die sie nicht kannte. Unbekannte Gefahren, die sie nicht einschätzen konnte. Gleiches traf auf Taran zu, den sie mittlerweile wie einen Bruder schätzte.

Sie lehnte an der Wand der Unterkunft, ließ nachdenklich den Blick über den Innenhof der Burg gleiten. Die Pflastersteine ordentlich gefegt, kein Unkraut in den Fugen. Öde Grautöne, die überherrschten und durch den Sonnenschein weiter aufgeheizt wurden. Sie sehnte sich nach einem schattigen Plätzchen im dunklen Grün der Wälder, um dieser Tristesse für kurze Zeit zu entkommen. Je öfter Hermanus sie mit nach draußen nahm, desto mehr verlangte sie nach der Freiheit, die er ihr in den Momenten bot.

Hufgeklapper erklang. Erwartungsvoll schaute sie in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. Fast wäre sie dem Vampir entgegengelaufen, doch hielt sie sich mühsam zurück. Ihr Verhalten rief schon oft genug Fragen auf, war es doch ungewöhnlich, dass ein Mädchen sich auf der Burg so wohlfühlte.

Fabiu lief breit grinsend mit zwei Pferden im Schlepptau auf sie zu. „Ausritt gefällig?" Er trug wieder Bogen und Köcher auf dem Rücken. Ein kleiner Wink, welches Training sie an diesem Tag erwartete. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie nickte heftig. Sie steckte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich schwungvoll in den Sattel. Kein Vergleich zu den zaghaften Versuchen am Anfang, wo sie meist Hilfe benötigt hatte. Wie die jungen Männer hatte sie dank Hermanus viel gelernt, war über sich hinausgewachsen.

„Da kann es jemand kaum erwarten, in den Wald zu kommen", bemerkte der ältere Vampir trocken, als sie ihr Pferd an ihm vorbei über die Zugbrücke trieb. Sie drehte sich im Sattel zu ihm um, zwinkerte ihm verschmitzt zu. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Landschaft, die vor ihnen lag. Das Gras wiegte sich im Wind, der verspielt darüber strich. Wie Meereswellen, hatte Romanu gesagt, ein versonnenes Lächeln auf den Lippen. Er kannte das Meer, hatte sie gedacht. Besaß sein Reich einen Küstenabschnitt? Zu gern würde sie einmal das Rauschen der Wellen hören, die salzige Luft einatmen und über den warmen Sand ins Wasser laufen.

Ein unbändiges Fernweh packte sie. Ihre Heimat grenzte nicht ans Meer. Wäre Romanu bereit, ihr eine Bleibe in sicherer Entfernung zu seiner Burg zu suchen? Damit sie ihm nahe und gleichzeitig geschützt lebte? War das zu viel verlangt?

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt