Kapitel 11

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Mit aufgeregt klopfendem Herzen schlich Sina weiter durch das Unterholz. Die Schreie der Verletzten wurden längst von den Lauten der Waldbewohner übertönt. Vögel sangen ihre Lieder. Ein Specht hämmerte etwa zwanzig Schritte entfernt auf einen Baumstamm ein. Baute er eine Höhle für seinen Nachwuchs oder suchte er Nahrung?

Sie blieb stehen, sah sich in alle Richtungen um. Die Tiere, die hier lebten, verhielten sich zu friedlich, als dass sich jemand außer ihr in diesem Teil des Waldes herumtrieb. Eine Treibjagd wie beim letzten Mal würden die Spitzzähne diesmal nicht veranstalten. Die Vampire würden keine Zeit verschwenden, um sie zu ergreifen und zurück zur Burg zu verschleppen. Sie würden sie foltern und in einem dunklen Loch einsperren. Das überlebte sie nicht. Kalter Schweiß rann ihren Nacken hinab. Es war noch nicht zu spät, umzudrehen, wisperte eine Stimme ihr zu. Die, die sich seit ihrer Kindheit vor Bestrafungen fürchtete. Sina drehte um, gleich darauf gestoppt von den harschen Worten ihres Vaters, die in ihrem Kopf widerhallten.

Du bist ein Schwächling. Warum nur habe ich keinen Sohn statt deiner bekommen? Oder eine Tochter, die zum Kämpfen geboren wurde?

Kehrte sie zur Burg um, war es nur eine weitere Enttäuschung auf der langen Liste, die man im Dorf führte. Nicht schriftlich, denn schreiben konnte dort niemand. Die Ältesten kannten die Verfehlungen aller Dorfbewohner auswendig und erinnerten sie daran, um sie zu größeren Anstrengungen anzutreiben.

Missmutig wandte sie der Richtung, in der das Bollwerk stand, den Rücken zu. Eine Umkehr brachte ihr nur Verderben bei den blutrünstigen Spitzzähnen ein, sprach sie sich Mut zu. Ein Aufgeben erschien ihr so viel leichter und bedeutete, dass sie Romanu wiedersah. Ein leiser Seufzer mischte sich mit den Geräuschen des Waldes. Der Specht hämmerte weiter auf seinen Stamm ein. Sina hob den Blick, schirmte mit der Hand ihre Augen vor dem durch das Blätterdach fallende Sonnenlicht ab. Das grüne Federkleid fiel kaum am Baumstamm auf. Ohne den roten Kopf, der stetig vorschnellte, hätte sie den Vogel fast übersehen. Immer wieder bearbeitete er mit dem Schnabel eine Stelle, von der kleine Stückchen Holz herabrieselten. Er baute eine Höhle, für sich und seine Brut. Ein Zuhause, um seine Kinder großzuziehen.

Sina verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Obwohl sie erst in drei Jahren das heiratsfähige Alter erreichte, stand fest, welchen der Männer aus dem Dorf sie heiraten würde. Einen Schlächter, wie er genannt wurde. Fiel ihren Leuten ein Vampir in die Hände, oblag es ihm, diesem die Haut abzuziehen und das Fleisch von den Knochen zu schneiden. Sie spuckte angewidert aus. Ihr Vater sah es als eine Ehre für seine Tochter, solch einem Mitglied der Dorfgemeinschaft versprochen zu sein. Doch dank ihrer Gabe wehrte sich alles in ihr, ausgerechnet zu diesem Mann zu gehören. Er würde erwarten, dass sie mit ihm zusammen den alten Sitten entsprechend die Mahlzeiten einnahm. Fleisch, das ihr zuwider war. Es widersprach ihrem ganzen Sein, etwas zu essen, das einst geatmet und gefühlt hatte. Wie die Menschen verstand auch ihre Spezies nicht, wieso sie sich von einem blutigen Mahl abgestoßen fühlte. Hermanus dagegen hatte ihr Brot und Käse angeboten, sich nicht respektlos über ihre Nahrungswahl geäußert, sondern sich noch dafür entschuldigt, dass er weder Obst noch Gemüse für sie dabeihatte. Für einen Vampir zeigte er sich erstaunlich mitfühlend.

Ihre Gedanken wanderten erneut zu Romanu. Er war anders als die Männer ihrer Spezies. Gleichzeitig verhielt er sich nicht wie ein typischer Spitzzahn. Statt ihr Angst einzujagen, wiegte seine Anwesenheit sie in Sicherheit. Sie ließ die Schultern hängen. Seit der Ankunft auf der Burg hatte sie ihn kaum gesehen. Hielt Hermanus ihn absichtlich von ihr fern? In der Hoffnung, dass es das Band, das sie miteinander verband, abschwächte? Das ließ sich nicht mehr zerstören. Sie hatte es versucht, dennoch spürte sie den Drang, zu ihm zurückzukehren.

„Dummes Mädchen", schimpfte sie sich murmelnd. Abermals Worte ihres Vaters, wenn sie lieber einem Tier, das einem Dorfbewohner in die Falle gegangen war, die Freiheit schenkte, statt es zu töten.

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt