Kapitel 19

448 41 59
                                    


Wenig später brachen die Männer zu ihrer Patrouille auf. Sina genoss währenddessen auf Romanus Bett sitzend eine Schale Obst, die Garak schnell für sie geschnippelt hatte, als er erfuhr, dass sie fortan Hermanus unterstellt war.

Zugeteilt, doch vorläufig ohne Beschäftigung. Sie runzelte die Stirn. Nichtstun wurde in ihrem Dorf hart bestraft. Von klein an halfen die Kinder mit. Doch jetzt durfte nicht auffallen, dass es ihr bereits besser ging. Sie seufzte. „Was machen wir, bis sie zurückkommen?"

„Du wirst dich ausruhe, ich werde lesen." Der Vampir hielt ein in Leder eingebundenes Büchlein hoch. „Dazu komme ich durch die Ausbildung viel zu wenig. Zu Hause habe ich gern gelesen."

„Warum bist du dann hergekommen? Dort ist es bestimmt schöner." Sie traute sich nicht, ihn direkt nach seinem Heimatland zu fragen. Sonst verriet sie sich womöglich. Doch wenn er es ihr freiwillig beschrieb, dagegen war nichts einzuwenden. Viel helfen würde es ihr dennoch nicht. Landeskunde gehörte nicht zu den Themen, die im Dorf gelehrt wurden. Vielleicht, damit niemand den Wunsch hegte, ein fremdes Reich zu besuchen. Unwissenheit als Schutz vor den Gefahren, die dort in den Schatten lauerten. Und doch hätte sie gern mehr gewusst, bevor sie blindlings in ein ihr unbekanntes Königreich vor den Wachen ihres Herrschers geflüchtet war.

Sie steckte sich ein weiteres Apfelstück in den Mund und kaute andächtig. Die Augen geschlossen haltend, holte sie sich die raue Schönheit ihrer Heimat ins Gedächtnis. Ihre Beine kribbelten vom Bewegungsmangel. Sie wollte rennen, die Energie aufbrauchen, die dank des Vampirblutes durch ihren Körper rauschte. Der schiere Gedanke, zu einer Woche Untätigkeit verdammt zu sein, verursachte ihr Herzrasen und Schwindel.

„Was ist mit dir?" Romanu setzte sich neben sie, legte seine schlanken Finger auf ihr Handgelenk. Kälte auf ihrer brennenden Haut. „Du hast Fieber. Leg dich wieder hin", forderte er sie auf.

„Nein, das ist nicht nötig. Mir geht es gut", widersprach sie ihm mit fester Stimme. „Schildere mir bitte deine Heimat." Sie riss ihre Augen weit auf, schaute den Mann bettelnd an.

Er seufzte. „Da gibt es nicht viel zu berichten. Es ist kein großes Königreich."

„Das glaube ich nicht." Sie rutschte näher an ihn heran. „Erzähle mir davon, bitte. Nichtstun ist langweilig."

Romanus Mundwinkel zuckten nach oben. Er legte das Buch zur Seite und betrachtete Sina einen Augenblick stumm. Dann seufzte er übertrieben. „Nun gut, sonst lässt du mir eh keine Ruhe." Er nahm ihr die leere Obstschüssel ab und stellte sie weg. „Wo fange ich an?"

„Gibt es dort Wälder?" Sina lächelte bei der Erinnerung an die kühle würzige Luft unter den Baumkronen und an das Rascheln der Blätter im Wind. Sie vermisste es, lautlos auf nackten Füßen über weiches Moos zu laufen, sich hinter Büschen und Bäumen zu verstecken und Tiere beim Fressen zu beobachten. Ob Hermanus ihr das während einer Patrouille erlaubte oder einmal mit ihr allein ausritt, wenn sie ihn darum bat?

„Da gibt es so einige. Sie würden dir gefallen. Luchse schleichen nachts durch das Unterholz, ziehen ihre Jungen im dichten Dickicht auf. Füchse springen dort herum. Auf der Jagd nach Mäusen vollführen sie die wildesten Kapriolen." Er schloss die Lider, atmete tief durch. „Die Wälder meiner Heimat sind reich an Wild. Rehe und Hasen leben dort im Überfluss. Eichhörnchen toben durch das Geäst und nur selten verstummen die Vögel, die jedem Wanderer für seinen Weg ein Lied singen."

Das hörte sich wundervoll an. Idyllisch für ein Reich, in dem Spitzzähne herrschten. Sie benetzte ihre Lippen. „Wie werden Menschen dort behandelt?"

„Es gibt nur wenige Sklaven – Straftäter, die ihre Freiheit durch Mord und Diebstahl verwirkt haben. Am Königshof dienen die Menschen freiwillig. Dafür erhalten sie Schutz und ihre Kinder Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen."

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt