Kapitel 2

703 54 110
                                    


Sie schaute hoch zum Himmel. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, näherte sich stattdessen mit großen Schritten dem Horizont. Es wurde Zeit, dass sie sich einen Platz für die Nacht suchte. Von den Spitzzähnen hatte sie weder etwas gesehen noch gehört, seitdem diese die Wachen getötet hatten. Doch das bedeutete nicht, dass sie ihr nicht folgten. Sie seufzte leise. Ihre Freiheit war in diesem Land in noch größerer Gefahr als bei einem herkömmlichen Herrscher. Erst recht, wenn jemand herausfand, was sie war.

Die junge Frau straffte die Schultern. Auch diese Prüfung würde sie bestehen und erfolgreich in ihr Dorf heimkehren. Endlich würde sie die Anerkennung ihres Vaters erhalten, um die sie kämpfte, solange sie denken konnte.

Sie blieb stehen, musterte intensiv das Gelände, das vor ihr lag, und lauschte den Geräuschen. Wasser und Schutz, wo fand sie beides in diesem fremden Gebiet? Sich umzudrehen vermied sie, für den Fall, dass ihr jemand folgte. Es war weise, einen Verfolger nicht wissen zu lassen, dass man ihn entdeckt hatte. Spitzzähne waren verschlagene Wesen, die keine Rücksicht auf Menschen nahmen. Sie hielten mit einem Pferd im vollen Galopp schritt und näherten sich geräuschlos. Manche verschmolzen mit den Schatten, andere waren stärker als zwei Ochsen zusammen. Nur wenn sie ihre Beute unterschätzten, bestand eine Chance, ihnen zu entkommen. So wie die älteren Kinder im Dorf, die ihre Taktik oft falsch eingeschätzt hatten. Doch die Spitzzähne waren weitaus bedrohlicher.

Das Mädchen atmete tief durch. Wie sie den Monstern entkam, war eine Sorge für später. Erneut suchte es das Gelände mit Blicken ab. Nicht weit entfernt lag ein Wäldchen, das es vor dem Hereinbrechen der Dunkelheit erreichte, wenn es keine Zeit vergeudete. Es streckte die Arme gen Himmel, reckte den schmerzenden Rücken. Die Füße brannten vom langen Marsch ohne schützendes Schuhwerk.

Seufzend setzte die junge Frau sich erneut in Bewegung, ignorierte den knurrenden Magen. Sie war es gewöhnt, über Tage zu fasten. Ein rigoroses Training, um in dieser grausamen Welt zu bestehen. Ihr Vater bestand darauf, hatte ihm das Schicksal einen Sohn verwehrt. So bereitete er sein einziges Kind auf das Leben als Kriegerin vor. Nichts Ungewöhnliches für ihre Gemeinschaft. Es gab Momente, an denen sie sich wünschte, ihrer Begabung nachzugehen, doch diese Augenblicke nahmen im Vergleich zu ihrer Kindheit stetig ab. Sie begriff, dass sie als Kämpferin ihrem Dorf besser diente. Die Gruppe hatte Vorrang vor dem Wunsch des Einzelnen. Nur so überlebten sie.

Wenigstens lebten in ihrer Heimat keine Spitzzähne. Ein Grund, weshalb ihre Vorfahren sich dazu entschieden hatten, in dem Reich eines gewöhnlichen Herrschers zu siedeln und sich aus anderen Ländern zurückgezogen hatten. Diejenigen, die nicht von den Monstern getötet worden waren. Sie seufzte abermals. Es war eine düstre Zeit damals, so berichteten die Alten, die sie noch miterlebt hatten. Denn obwohl sie nicht zahlreich waren, sie waren genauso langlebig wie die Kreaturen, die sich zu Fürsten und Königen ernannten und Menschen für ihre Zwecke unterjochten.

Der Himmel färbte sich orange, als sie das Wäldchen erreichte. Das Glucksen eines Baches drang an ihre Ohren. Es rief ihr in Erinnerung, wie lange es her war, dass sie etwas getrunken hatte. Zu Mittag, an einem kleinen See. Ein idyllischer Platz, doch durfte sie nicht verweilen. Je schneller sie das Gebiet durchquerte, über Umwege zu ihrer Heimat zurückkehrte, desto geringer die Gefahr, von Spitzzähnen verschleppt und versklavt zu werden.

Sie rieb sich über den Hals. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Die Monster würden von ihr trinken, sie ihres Blutes willen ewig einsperren. Oder Schlimmeres. Sie schloss einen Moment die Augen, rief sich die Schauergeschichten über Vereinigungen zwischen Spitzzähnen und Frauen ihrer Art ins Gedächtnis. Ihre Hand fuhr wie von selbst zur Hüfte. Dorthin, wo sonst ein Messer in einer bescheidenen Lederscheide hing.

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt