Kapitel 6

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Romanu trieb seinen Hengst an. Das Mädchen saß vor ihm im Sattel und hielt sich an der Mähne des Tieres fest. Obwohl ihre Haltung verriet, dass sie noch nicht oft geritten war, strahlte sie keine Furcht aus. Diese hatte sie abgelegt, sowie Razvan sich zurückgezogen hatte. Dieser törichte Kerl, der eines Tages für seinen Hochmut bestraft werden würde. Sina hätte es aus der Schlucht hinausgeschafft, wenn der Griesgram sie nicht zu Fall gebracht hätte. Die Kleine war ausgesprochen flink. War das der Grund, weshalb Hermanus sich so sehr für sie interessierte?

Sein Blick verdunkelte sich. Auffällig schlang er einen Arm um das Mädchen, damit sie nicht vom Pferd stürzte. Gleichzeitig setzte er damit ein Zeichen. Die Kleine stand unter seinem Schutz. Er galoppierte an und trieb den Hengst an die Spitze der Gruppe. Lächelnd stellte er sich vor, wie er mit Sina allein über die Wiese ritt.

Nachdenklich starrte er zum Horizont. Wieso spürte er diese Verbundenheit zu dem Kind, das ihm in die Arme gefallen war? Ab dem Moment, als er sie das erste Mal sah, hatte er eine tiefe Unruhe verspürt, die in dem Augenblick verschwand, als er sie festhielt. Der pure Gedanke, dass jemand anderer sie hielt, brachte sein Blut zum Kochen. Nie hätte er sich sonst gegen seinen Ausbilder gestellt. Umso erstaunlicher, dass Hermanus es ihm hatte durchgehen lassen. Womöglich nur, weil die Kleine sich festgeklammert hatte. Wie ein Tierkind an seine Mutter. Sah sie in ihm einen Beschützer? Weil er sie vor dem Aufprall auf dem felsigen Boden bewahrt hatte? Er atmete tief durch. Die Geschehnisse des Tages verwirrten ihn mehr, als er für möglich gehalten hatte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Fabiu aufschloss. Von allen Vampiren aus seiner Gruppe, verstand er sich mit dem jungen Heiler am besten. Doch dessen Interesse an Sina irritierte ihn. Er warf ihm einen warnenden Blick zu, als dieser sehnsüchtig zu dem Mädchen schaute.

„Sieh mich nicht so an, als ob ich der Kleinen gleich das Blut aussaugen wolle. Sie ist viel zu jung dafür." Er beugte sich ein wenig im Sattel rüber. „Völlig entspannt. Das hätte ich nicht erwartet."

„Halte dich von ihr fern", knurrte Romanu.

Der Freund wich zurück, musterte ihn kritisch. „Vielleicht ist es doch besser, wenn Hermanus die Kleine übernimmt."

Die kleine Pause vor dem Namen ihres Vorgesetzten führte dazu, dass Romanu die Augenbrauen hochzog. Hatte Fabiu etwas anderes sagen wollen? Es hatte sich verdächtig danach angehört. Doch bevor er sich länger damit befassen konnte, schloss ihr Hauptmann zu seiner rechten Seite auf. Trauten sie ihm nicht zu, auf Sina aufzupassen? Weil er aus einem anderen Reich stammte? Leise knurrend drückte er das Mädchen noch fester an sich.

„Wir sollten einen Unterschlupf suchen. Es sieht nach Regen aus." Der ältere Vampir zeigte auf einen dunkelgrauen Streifen am Horizont, wo sich düstere Regenwolken übereinanderstapelten. Eine Windbö streifte sie, deutlich kühler als zuvor.

„Die alte Hütte im Wald, der an den Fluss grenzt. Oder schaffen wir es hinüber, bevor der Regen einsetzt?" Fabiu musterte die Regenfront, die sich ihnen rasant zu nähern schien. Eine Eigenart des Wetters, das in dieser Gegend schnell umschlug und dabei unaufmerksame Reisende überraschte.

„Bis zum Fluss ist es zu weit." Hermanus schwenkte ab, lenkte sein Pferd zum nahen Waldrand. Dort, tief versteckt zwischen den Bäumen, stand eine verlassene Hirtenhütte. Aus der Zeit, als Schweine im Herbst noch durch den Wald getrieben wurden, um sich an Eicheln, Kastanien und Trüffeln fett zu fressen.

Gerade noch rechtzeitig erreichten sie das baufällige Holzhaus, das eher einem Schweinestall glich. Einige der Bretter hatten sich unter der Gewalt der Natur über die Jahrzehnte gelockert und klapperten in den immer kräftiger werdenden Böen.

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt