Kapitel 32

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Sie hasste ihn mit jeder Faser ihres Körpers. Jeden Tag mehr. Mit aufeinandergepressten Lippen, die Fäuste in die Seiten gestemmt, starrte sie ihm hinterher, wie er mit einigen anderen Männern hinter der Baumgrenze verschwand. Warum hatte er es nur getan? Mit Trauer in ihrem Herzen dachte sie an Lena, die junge Frau, mit der er verheiratet war, als sie zurück ins Dorf kehrte. Eine Jägerin, nur zwei Jahre älter als sie. Schwanger vom Schlächter, der sie wie einen unnützen Gegenstand in die Ecke warf, wenn ihm danach war. Seine Ehefrau hatte ihm eine Tochter geschenkt. Doch statt sich darüber zu freuen, hatte er sie beschimpft, dass sie seiner nicht würdig war, weil sie ihm keinen Sohn geboren hatte. Das war erst der Anfang. Die Tage nach der Geburt schirmte er sie von allen ab. Niemand durfte die junge Mutter und ihr Neugeborenes besuchen, sich um sie kümmern, damit sie kein Kindsfieber bekam. Genau das geschah. Als er schließlich eine Heilerin zu ihr ließ, war es bereits zu spät. Lena starb am nächsten Tag, ihr Kind ebenfalls. Kaum hatte man ihre Körper der Tradition nach verbrannt, fing er an, Sinas Vater zu bestürmen, ihm die Hand seiner Tochter zu versprechen.

Sie wandte sich ab, starrte hoch zum Himmel. Nur noch drei Monde, dann würde sie mit dem Mann vermählt werden, den sie aus tiefsten Herzen verabscheute. Er war das Monster, das sie fürchtete, nicht die Vampire. Ihr Geburtstag war kurze Zeit nach dem Fest für den Vampirnachwuchs, das jedes Jahr in König Ragnars Reich abgehalten wurde. Die adeligen Spitzzähne reisten mit ihren Kindern an, damit sie einen Partner fanden. Sina rechnete im Kopf nach. Romanu würde bei der Feier anwesend sein, genauso wie Taran, Berok, Cyrus und Marina. Ob die Prinzessin sich abermals Romanu an den Hals werfen würde, wenn sie erfuhr, dass er von königlichem Blute war? Wahrscheinlich. Sie ballte erneut die Hände zu Fäusten, öffnete sie gleich darauf wieder seufzend. Er würde sich eine Vampirin zur Frau nehmen, ob es ihr gefiel oder nicht. Außer sie fand einen Weg, dies zu verhindern. Ihr Herz gehörte ihm, ganz gleich, was die Dorfältesten oder ihr Vater davon hielten.

Noch kannst du fliehen, raunte ihr eine Stimme zu. Du weißt, aus welchem Land er stammt. Gehe zu ihm.

Sie hob den Arm, schaute stirnrunzelnd auf ihr rechtes Handgelenk, als sie es ruckartig drehte. Die Glöckchen des Armbandes klingelten. Die miesen kleinen Verräter, die man ihr umgebunden hatte, sowie ihr Vater sie dem Schlächter versprach. Zum Zeichen, dass ihr zukünftiger Ehemann auf sie wartete. Gebrandmarkt wie ein Vieh und genauso gefesselt, damit sie nicht versuchte, sich des Nachts aus dem Dorf zu stehlen. Nur der Gemahl durfte es nach der Feier, nach der ersten gemeinsamen Nacht entfernen. Sie knurrte. Lieber jagte sie sich ein Messer in die Kehle, als sich ihm unterzuordnen.

Sie ließ ihren Blick weiter durch das Dorf gleiten, bis sie die gesuchte Person fand. „Malia." Ein Mädchen mit sonnengelben Haaren sprang auf und ließ den Stock, mit dem es etwas in die Erde gezeichnet hatte, fallen. Die Kleine stürmte auf sie zu. Sina bereitete sich mental auf den Aufprall vor. Das Kind liebte es, sich mit Wucht gegen ihre Beine zu werfen. Ein Kräftemessen, das die anderen Kinder in ihrem Alter noch nicht machen wollten. Die größeren Mädchen und Jungen, die sich gern im Kampf übten, wollten sich andererseits nicht mit der Vierjährigen abgeben.

Doch dieses Mal stoppte das Kind rechtzeitig vor ihr und wedelte mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht wiederzufinden. „Ich will jagen!" Ein Wunsch, den Malia seit wenigen Wochen hegte und immer wieder lauthals kundtat.

Sina seufzte und klingelte mit ihrem Armband. „Ich darf das Dorf doch nicht verlassen. Schon vergessen?" Sonst wäre sie vor einigen Monden bereits verschwunden. Zusammen mit dem Mädchen, für das sie seit knapp zwei Jahren sorgte. Nach dem Tod der Eltern wollte niemand Malia bei sich aufnehmen. Sie wäre verhungert, so wie Sinas Schwester damals. Wut kochte in ihren Adern hoch. Hass auf die alten Traditionen ihres Volkes, die ungerecht waren. Die viele Leben gekostet hatten. Manchmal fragte sie sich, ob die Lebensweise der Vedma nicht für mehr Tote verantwortlich war als die Vampire.

VedmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt