59

356 9 0
                                    

Gespannt schauten Harry und ich zur Tür und es überraschte mich weniger als ihn, als plötzlich Alexandra den Raum betrat. Mit unsicherer Miene und Haltung blieb sie neben Jayden stehen - sie sah aus wie ein eingeschüchtertes Kind. 

Jayden rieb seine Handflächen aneinander und wirkte auf einmal angespannt. "Wir müssen mit euch reden - aber vor allem mit dir, Jaz."

"Warum müssen wir das genau jetzt und hier bei mir Zuhause besprechen?", wollte Harry wissen, der hörbar gereizt war. "Und warum so plötzlich?"

Zu meiner eigenen Überraschung war ich sehr ruhig, obwohl die Situation überfordernd war, und betrachtete einfach nur überfordert das Geschehen. Vor wenigen Minuten war ich noch intim mit Harry und nun stand plötzlich mein Bruder mit Alexandra vor uns. Ich hatte eine Art Déjà-vu an den Tag, als Jayden sie uns vorgestellt hatte - minus die Situation mit Harry natürlich. 

"Mum meinte, dass ihr hier seid", zuckte Jayden mit den Schultern, als wäre es das normalste auf der Welt, dass er uns einfach so mit meiner Erzfeindin überrumpelte bei Harry im Zimmer. "Es ist wirklich wichtig - bitte."

Ich merkte Harry die Anspannung ganz genau an, denn als er sich aufbaute, war er bereit, die zwei auf der Stelle rauszuschmeißen. Als ich wieder einen klaren Gedanken formen konnte, legte ich meine Hand stoppend auf seinen Arm. Ich war nicht dumm und konnte mir schon denken, worum es ging. Warum sollten wir sonst hier zu viert in einem Raum sein, obwohl Jayden und Alexandra ja eigentlich keinen Kontakt mehr hatten.

"Legt los", seufzte ich schließlich. 

Harry schaute mich mit einem eindringlichen Blick an, um mich damit zu fragen, ob ich mir sicher war. Ich nickte ihm überzeugt zu und schaute Alexandra an, die verunsichert mit ihren Fingern spielte und nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Jayden gab ihr einen ermutigenden Stupser.

Leise räusperte sie sich und fing schließlich an mit gebrochener Stimme zu sprechen: "I-Ich wollte mich bei dir entschuldigen, Jazmyn."

Ich musste ehrlich zugeben, dass ich sie noch nie so klein und fast schon hilflos gesehen hatte. Das verwunderte mich sogar mehr als ihre Entschuldigung. Früher hätte ich mich schamlos daran erfreut, aber nun tat sie mir fast schon leid.

"Mein Verhalten dir gegenüber ist eigentlich unmöglich zu entschuldigen - oder gutzumachen. Ich war gemein zu dir-..."

"Gemein?", lachte Harry ungläubig auf. "Du warst einfach scheiße zu ihr - Punkt. Und eine Entschuldigung wird das auch niemals wieder gut machen - da hast du Recht. War's das?" 

Sein Einmischen machte mich wütend, auch wenn er es nur gut meinte. Ich konnte selbst bestimmten, was für mich gut war und brauchte niemanden, der über meinem Kopf hinweg für mich redete und entschied - vor allem nicht, wenn ich direkt daneben saß. Also sagte ich "Ist gut, Harry. Ich möchte mir gerne anhören, was sie zu sagen hat." Mein Blick blieb die ganze Zeit über auf Alexandra gerichtet. 

Im Augenwinkel sah ich, wie Harry mich musterte und schließlich atmete er tief durch. "Sorry."

Jayden deutete ihr, dass sie weiterreden sollte. Kurz sah sie rüber zu ihm, als würde sie dadurch Kraft gewinnen. "Ich weiß, dass es keine Worte und Taten gibt, die mein Verhalten jemals wieder rückgängig oder gut machen können. Jetzt möchte ich mich einfach nur erklären, warum ich das getan habe, damit du mir hoffentlich irgendwann verzeihen kannst."

Verzeihen war ein mächtiges Wort. Ob ich ihr jemals komplett verzeihen konnte? Ich wusste es noch nicht, aber das war auch in Ordnung. Ich machte meine Lebensfreude nicht von ihrer Entschuldigung abhängig.

Als ich nicht antwortet, nahm Alexandra das als Zeichen einfach weiterzureden. "Ich war eifersüchtig, okay?" Gestresst fuhr sie sich durch die Haare. "Ich kam neu in die Klasse und war unsichtbar - egal ob bei den Jungs, den Mädchen oder auch den Lehrern. Wirklich jeder liebte dich und hatte nur Augen für dich."

Mir klappte der Mund auf und so versteinerte ich für einige Sekunden, da mir einfach die Sprache fehlte. "Versuchst du dich gerade bei mir zu entschuldigen, indem du mir sagst, dass ich Schuld daran bin, dass du mich gemobbt hast?!"

"Das ist doch absoluter Bullshit", zischte Harry wütend und stand mit geballten Fäusten auf. "Jayden, das ganze war eine scheiß Idee."

Mein Bruder umfasste seinen Nasenrücken und wirkte fasst schon gestresster als wir alle zusammen. Danach drückte er Harry zurück auf das Bett. "Sie versucht sich zu entschuldigen und das ist nicht so einfach. Lasst sie doch erstmal ausreden."

"Seid ihr wieder zusammen?", fragte ich komplett am Thema vorbei. Noch vor Kurzem war bei den zwei Funkstille, ich übergab Jayden den Brief von Alexandra, dann verhielt er sich komisch und nun standen sie zusammen vor uns und sie wollte sich entschuldigen. 

"Das hat nichts damit zu tun", versuchte Jayden sich zu erklären. "Aber ja, sind wir." 

"Also hast du ihr gesagt, dass sie sich entschuldigen soll, damit du mit einem guten Gewissen mit einem grauenvollen Menschen zusammen sein kannst", stellte Harry eine knallharte Vermutung auf. 

Ich bekam Kopfschmerzen, weil wir uns die ganze Zeit nur im Kreis drehten. 

"Nein, ich entschuldige mich, weil ich es möchte", sprach Alexandra plötzlich mit einer viel lauteren und selbstsicheren Stimme. "Und jetzt seid ihr alle ruhig und lasst mich endlich ausreden." Da war sie wieder. Das Mädchen aus der Schule. "Das klingt alles total beschissen - das ist es auch. Aber ich war einfach eifersüchtig, okay? Ich war eifersüchtig auf dich, Jazmyn. Du hast nicht viel geredet, dich nicht geschminkt - du warst unauffällig, aber bist trotzdem jedem aufgefallen. Und ich bin jeden morgen um fünf Uhr aufgestanden, um mich schön zu machen, bin den Jungs auf die Nerven gegangen, habe fast schon um Aufmerksamkeit gebettelt - dennoch hatten alle nur Augen für dich."

"Das klingt so absurd", murmelte ich leise und sprach dabei eher zu mir selber.

Ihre Worte trafen mich hart, machten mich traurig und gleichzeitig unfassbar wütend. Ich musste das ganze erstmal verarbeiten und in den Kopf bekommen. Meine Therapeutin konnte sich auf eine lange Therapiestunde freuen. 

"Mir war es nur wichtig, dass ich dir einmal erklären konnte, wie ich früher gedacht habe und warum ich so gehandelt habe - auch wenn es natürlich falsch war."

Ich verstand nicht so ganz ihren Gedankengang dahinter. "Warum hast du dein Problem dann zu meinem gemacht und mir damit mein komplettes Selbstbewusstsein und Leben zerstört?" 

Alexandra seufzte leise. "Ich war jung, dumm... keine Ahnung, wie ich das nur annähernd entschuldigen kann. Weil ich egoistisch war und es dir nicht gegönnt habe. Ich habe damals einfach nur an mich gedacht und wollte so gerne wie du sein. Auf meiner alten Schule war ich immer das beliebte Mädchen und ich dachte, dass es auf der neuen auch wieder direkt so wäre. Ich konnte es nicht haben, dass es auf einmal nicht mehr so war. Das war alles so scheiße, was ich gemacht habe  - heute weiß ich das, bereue es und würde es am liebsten rückgängig machen, wenn ich könnte." Am Ende ihres letztens Satzes war sie bereits in strömenden Tränen ausgebrochen.

Aber ich hatte kein Mitleid mit ihr. Sie hatte mein Leben zerstört und stand nun weinend vor mir. Ich hatte mit dem Thema schon ganz gut abgeschlossen für mich und nun wühlte sie alles nochmal auf. Und diese Erklärung?! Sie hatte mich erniedrigt, gemobbt und komplett zerstört, nur weil sie nicht das beliebte Mädchen war? Das war einfach nur egozentrisch und ich wusste nicht, ob es mir persönlich half, dass ich nun den Grund wusste. Theoretisch hatte sie einfach nur mir die Schuld für alles gegeben. Ich hatte das Gefühl, es machte alles nur noch schlimmer. 

"Ich denke, das wichtigste ist, dass du dir selbst irgendwann verzeihen kannst und mit deinen Taten und den Auswirkungen klarkommst." 

Das waren meine letzten Worte, bevor ich den Raum, das Haus und meine starke Rolle verließ. 

An dem Abend lag ich weinend in Harrys Armen und heulte den ganzen verdrängten Schmerz der letzten Jahre raus. Ich weinte, bis ich keine Luft mehr bekam und mir schwindelig wurde. Ich weinte weiter, als keine Tränen mehr kamen. Ich weinte, bis ich schließlich in Harrys Armen einschlief. Aber mit jeder vergossenen Träne, wurde es auch ein kleines Stückchen besser. 

unexpected love || h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt