Ich konnte nicht antworten, aber das musste ich auch nicht weil er im nächsten Moment seine Augen schloss und sich langsam zu mir runter beugte. Ich schloss ebenfalls meine Augen und erwartete schon seine Lippen auf meinen, aber dazu kam es leider nicht, weil uns ein Krachen zusammenfahren ließ. Ich drehte mich um und entdeckte Kyle, der die Tür durchgebrochen hatte.
„Die Tür ist offen gewesen", bemerkte Drake und starrte aus das zerborstene Holz. Kyle ignorierte seine Bemerkung und meinte stattdessen: „Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich einfach so weggehen würde."
„Tatsächlich hatte ich das nicht geglaubt", entgegnete Drake und grinste leicht. Kyle blickte auf einmal zu mir und sagte: „Mila, wir müssen gehen." „Ich will aber bei Drake bleiben", antwortete ich und ging einen Schritt nach hinten um zu verdeutlichen, dass ich wirklich nicht die Absicht hatte mit ihm zu gehen.
„Du musst zu deinem Rudel, da wo du hingehörst. Es wird dir nicht gut tun, wenn du dich einem Wilden anschließt. Komm mit, bitte!" Er streckte seine Hand aus, aber ich schüttelte den Kopf. „Nur wenn Drake mitkommen darf." Kyle schnaubte und sagte: „Drake kann unmöglich mitkommen. Er hat ein Rudelmitglied getötet... Was ist eigentlich los mit dir, warum klemmst du auf einmal so an ihm?" „Drake hat niemanden getötet, er hat mir die ganze Wahrheit erzählt!"
Kyle starrte mich entgeistert an und rief: „Ich weiß nicht was für einen Scheiß er dir erzählt hat und warum du ihm mehr glaubst als mir, aber-" „Vielleicht weil er mich nicht andauernd angelogen hat, wie du es getan hast", fuhr ich dazwischen. Kyle atmete hörbar ein und wieder aus, wahrscheinlich um sich zu beruhigen.
Dann sagte er mir, wieder in einer normalen Lautstärke: „Mila, du kennst mich vielleicht seit einer Woche und Drake sogar noch weniger. Ich habe dich in der Vergangenheit angelogen, ja, aber das habe ich nur getan, weil ich dachte, dass du noch nicht für die Wahrheit bereit wärst. Aber du musst mir glauben, am See habe ich dir die Wahrheit erzählt. Und was Drake angeht, er ist sicherlich auch nicht ehrlich zu dir. Dass er dich noch nicht angelogen hat ist kein Grund dafür, warum du ihm vertrauen kannst. Du kennst ihn immerhin erst ein paar Stunden, da ist es klar, dass du noch nicht herausfinden konntest, dass er dich anlügt."
„Ich vertraue Drake. Bei ihm fühle ich mich sicher", gab ich stur zurück. Kyles Gesichtsausdruck schien nun traurig, als er mir entgegnete: „So eine Wirkung hat Drake leider öfter..."
„Bitte komm mit mir. Zu deinem Rudel. Zu deiner Familie", flehte mich Kyle grade zu an. „Ich denke, du solltest mit ihm gehen", meinte auf einmal Drake, der die ganze Zeit ziemlich ruhig gewesen war. Ich sah ihn geschockt an, aber er mied meinen Blick und sah stattdessen Kyle an. Ich wollte grade zu einer Frage ansetzten, als er mir diese schon beantwortete: „Kyle hat 'deine Familie' mit gebracht. Wir hätten sowieso keine Chance gehabt weg zugehen. Entweder du gehst freiwillig oder sie sorgen selbst dafür, dass du mitkommst." Jetzt starrte ich Kyle geschockt an, der seine Hände abwehrend hob. „Sie haben mich nicht alleine gehen lassen. Meine Idee war das sicher nicht."
Ich sah wieder Drake an, aber er mied immer noch meinen Blick. Was blieb mir jetzt noch anderes übrig? Ich ließ meine Schultern hängen und seufzte: „Na gut, ich komme mit." Ohne die beiden noch einmal anzusehen, ging ich zur durchbrochenen Tür und verließ das Haus. Es kam mir so vor, als hätte ich Drake noch etwas murmeln hören, dass er bald wieder kommen würde, nur noch nicht in nächster Zeit. Draußen war es schon ziemlich dunkel, trotzdem erkannte ich die vielen Gestalten, die sich im Wald tummelten. Mein Blick fiel auf Anelia. Sie lächelte mich leicht an, woraufhin ich aber schnell wieder wegsah.
Die ersten Gestalten bewegten sich und gingen tiefer in den Wald. Ich folgte ihnen einfach, indem ich aber trotzdem großen Abstand hielt. Unmittelbar hinter mir hörte ich Schritte, welche mir verrieten, dass es Kyle war. Kaum zu glauben, aber ja ich erkannte Kyle an dem Geräusch seiner Schritte. Dafür, dass ich ihn erst so wenige Tage kannte, war er mir vertrauter als so manch anderer, zumal ich sowieso nie enge Freunde gehabt hatte.
Mit jedem Schritt erlosch das Gefühl, welches ich bei Drake Gegenwart gespürt hatte. Ich war nicht mehr so benebelt und hatte wieder einen klaren Kopf. Aber mit jedem Schritt fröstelte ich auch immer mehr, da es in der Nacht schon kälter war, als am Tag.
Plötzlich spürte ich etwas an meinen Schultern und ich wich instinktiv zur Seite. Ein Blick nach hinten, zeigte mir, dass Kyle seine Jacke ausgezogen hatte und sie so ausgestreckt hielt, als wollte er sie mir über die Schultern legen. „Tut mir leid, ich dachte nur dir würde kalt sein", meinte er und lächelte verlegen. „Mir ist etwas kalt", gab ich zu und diesmal wich ich nicht aus, als er mir die Jacke umlegte.
Es herrschte wieder Stille, bis Kyle auf einmal sagte: „Es tut mir übrigens leid, dass ich dich damals angelogen haben, wirklich." Ich nickte bloß, aber dann kam mir eine Idee und ich fragte aufgeregt: „Wirst du mir nun endlich all meine Fragen beantworten?" Kyle antwortete erst nicht und als ich ihn an sah, verriet mir sein Blick, dass er mit sich zu kämpfen schien. Ich wandte mich enttäuscht von ihm ab. War ja klar gewesen...
Nicht mehr lange und ich erkannte schon die kleinen Häuser. Kyle begleitete mich noch bis zu dem Haus meiner Eltern, bis er sich dort vor mich stellte. Ich blickte zu ihm hoch und so verweilten wir kurz. „Wir sehen uns morgen, damit ich dir all deine Fragen beantworten kann", sagte Kyle, lächelte mich freundlich an und ging dann davon. Mein Blick erhellte sich sogleich und in dem Moment war ich froh, dass ich mitgekommen bin.
Ich wusste zwar nicht, ob Kyle mir die Wahrheit erzählte oder Drake. Am besten war es also, wenn ich mir von Kyle die Fragen beantworten ließ und dann auch mit den anderen Rudelmitgliedern sprechen würde. Was brachte es mir denn wenn ich mir nur zwei Sichtweisen anhörte? Solange ich selbst nicht wusste wo hinten und vorne war, war es besser wenn ich vorerst niemanden genaues vertraute. Ich hatte Kyle vertraut und er hatte mich angelogen. Warum sollte Drake mich nicht auch anlügen? Nur weil ich mich sicher bei ihm fühlte, hieß das noch lange nichts. Ich habe mich immerhin auch sicher bei meiner angeblichen Mutter gefühlt und die hat mich, wie sich herausgestellt hat, auch nur angelogen.
Um mich selbst von diesen Gedanken abzulenken, öffnete ich nun die Tür zum Haus. Ich ging rein und schloss die Tür wieder hinter mir. Das Licht im Haus war noch an und im nächsten Moment tauchte Anelia von einer der rechten Türen auf.
Hier war ich also, in dem Haus meiner Eltern, meiner richtigen Eltern. Ein Gespräch mit meiner Mutter schien nun auch unausweichlich. Nicht nur weil wir jetzt im gleichen Haus wohnen würden, sondern auch weil ich ja noch wissen musste, wo überhaupt mein Zimmer war.
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Emerald wolve
WerewolfWährend eines starken Sturmes wurde die 16 Jährige Mila Kingston fast von einem Baum erschlagen. Dank einer unbekannten Person wurde sie gerettet. Wer diese Person war und welch ein Schicksal Mila bevorstand, erfuhr sie noch früh genug.