39. Die Sache mit dem Stolz

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Ich erwache aus meinem leichten Schlaf, als irgendwann die Wohnungstür ins Schloss und wenige Zeit später ein Lichtkegels ins Zimmer fällt. „Chester, bist du wach?", flüstert Rachel und bahnt sich ihren Weg zum Bett. „Ja, ich kann nicht schlafen."

Ich hebe die Decke an. Sie steigt zu mir ins Bett und zieht mich in eine feste Umarmung. „Ich hatte so Angst um dich. Ich konnte dich nicht erreichen und dann rief mich Adrian an und sagte, dass du ihm eine merkwürdige Sprachnachricht geschickt hast." „Ich hatte so Angst, dass er mich für immer dort gefangen hält." Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Aber jetzt bist du hier."

Nur unsere Atemzüge sind zu hören und wir sind komplett von Dunkelheit umhüllt. Aber diese Dunkelheit ängstigt mich, weshalb ich die Nachtischlampe einschalte. Es hängt schwer im Raum, das Thema, was Rachel aus Rücksicht nicht ansprechen will. „Adrian", sage ich schließlich. „Er ist mein Bruder. Kannst du das glauben? Er ist mein Bruder. Ich bin nicht mehr alleine, Chester. Ich bin nicht mehr alleine." Sie ist geradezu euphorisch. Das Lächeln auf ihren Lippen erhellt ihr ganzes Gesicht. Wer könnte es ihr verübeln. Sie dachte, alles verloren zu haben, aber nun ist sie wieder ein Teil von etwas.

Doch ich habe alles verloren. „Aber ich bin allein", schluchze ich und dann bricht die ganze Anspannung der letzten Stunden und der Verlust von Adrian über mir zusammen. Beruhigend streicht sie mir über den Rücken, bis meine Tränen versiegen. „Hat er dir alles erzählt? Auch den Teil mit mir?" Sie nickt und ihre Lippen bilden einen schmalen Spalt. „Aber weil er dein Bruder ist, verzeihst du ihm alles", schließe ich nüchtern. „Nein, Chester, so ist das nicht." „Es ist nicht richtig, was er getan hat."

Ich setze mich im Bett auf und löse mich aus ihrer Umarmung. Sie fühlt sich nicht richtig an. Rachel ist nicht auf meiner Seite. „Nein, das ist es nicht, aber du musst mich auch verstehen." „Also hältst du zu ihm?" „Ich halte zu niemanden. Chester, das muss doch nichts zwischen uns ändern." Ich nehme ihre Hand in meine. „Ich will dich nicht verlieren." „Das wirst du nicht."

Obwohl Rachel die Nacht bei mir verbringt, schlafe ich unruhig und werde ständig wach.  Notgedrungen schleppe ich mich am nächsten Tag zum Arzt, denn ich will nicht unentschuldigt auf der Arbeit fehlen. Aber sehe mich außerstande zu arbeiten und noch weniger, Adrian unter die Augen zu treten. Es ist jedoch nicht so, dass ich ihn einfach so vergesse. Nein, wenn mir nicht gerade Bilder durch den Kopf huschen, auf denen ich von einem Psychopathen ans Bett gefesselt bin, dann denke ich an Adrian. Der Ring, den mir die Polizei nach meiner Aussage auf dem Revier übergeben hat, macht die Sache nicht gerade einfacher.

Die wichtigsten Dinge seien nicht immer offensichtlich, hatte er gesagt. Nur hatte ich nicht die leiseste Vorstellung davon, was er alles vor mir verborgen hatte.

Vielleicht hätte ich mich ihm nie hingeben dürfen. Vielleicht hätte ich dem Verlangen, das über all die Wochen in mir heran gewachsen war, nicht nachgeben dürfen. Ich kannte diesen Mann doch gar nicht. Wie wenig hat sich nun gezeigt. Und dennoch vertreiben meine Gedanken an ihn die schlimmen Alpträume, die mich jede Nacht quälen.

So verbringe ich den halben Tag damit zu Grübeln und mit dem Ring zu spielen. Wenn ich mir eine Zukunft mit Adrian vorstelle, wandert der Ring an meinen Finger. Doch ich fürchte mich auch ein Stückweit vor der Vorstellung, gefangen zu sein im goldenen Käfig, mit der totalen Überwachung durch meinen Ehemann.

Wenn ich mir meine Zukunft ohne ihn vorstelle, liegt der Ring nur auf dem Nachttisch. Dann ich sehe mich bei einer Kanzlei Schriftstücke verfassen und abends in meine leere Wohnung zurückkehren.

Diese Vorstellung ist am realistischen, denn ich weiß, dass Rachel in nicht allzu ferner Zukunft ihren Auszug verkünden wird. Sie schläft in letzter Zeit oft bei Samuel. Momentan natürlich nicht, denn sie weiß, wie viel Angst ich zurzeit habe, nur alleine das Haus zu verlassen, aber sie dehnt ihre Mittagspausen sehr aus und kommt an manchen Tagen erst gegen Abend heim.

Das Essen, was ich bestellt habe, ist bereits kalt und ich drehe gedankenverloren den Ehering an meinem Finger, als Rachel zur Tür hereinkommt. „Chester, tut mir so leid, wir haben uns verquatscht", sagt sie, während sie mir flüchtig einen Kuss auf die Stirn drückt. „Alles okay bei dir?" Ich nicke und ringe mir ein Lächeln ab. „Lust auf kalte Pizza?"

Sie lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen und greift nach meiner Hand, die sie kurz drückt. Dann verleibt sie sich ein Stück Pizza direkt aus dem Karton ein. „Was ist das für ein Ring?", fragt sie laut schmatzend. „Mein Ehering, von Adrian", sage ich und nehme ihn zwischen zwei Finger, damit sie die Diamanten sehen kann. „Wunderschön, nicht?" „Wo wir gerade von ihm reden." Sie schaut beteten drein und verschwindet kurz im Flur, bevor sie mit einem Blatt Papier wiederkommt. Sie streckt es mir entgegen, aber ich nehme es nicht an.

„Soll ich dir von ihm geben." „Du hast dich mit ihm getroffen?", sage ich eine Spur zu anklagend. „Ich habe ihm nur ein paar Bilder von meiner Mutter vorbeigebracht und er hat mir ein Fotoalbum  mit Kinderbildern von uns gegeben."

Tränen funkeln in ihren Augen und erst jetzt wird mir bewusst, was ihr all die Jahre geraubt wurde. Ich schenke ihr ein ehrliches Lächeln und wende mein Augenmerk dann dem Blatt Papier zu. „Ein Aufhebungsvertrag?" „Ja, bei voller Bezahlung. Das ist doch das, was du immer wolltest."

„Nein! Meinst du, ich will ihm die Genugtuung geben, dass er bestimmt, wie es mit uns endet? Meinst du, ich lasse ihn gewinnen?"

Die Gläser klirren kurz auf dem Tisch, als sie mit der flachen Hand auf diesen schlägt. „Adrian hat auch verloren. Er leidet, genau wie du. Ihr seid nur leider beide zu stolz, um über euren Schatten zu springen... Weißt du was, Chester? Ihr habt euch echt verdient."

Date the boss - don't fall in loveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt