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Das ist eines der Geheimnisse des Lebens: Die Seele mit den Mitteln der Sinne und die Sinne mit den Mitteln der Seele zu heilen.

Oscar Wilde, in: Das Bildnis des Dorian Gray

Daria blickte Ariane nach, die auf dem Weg zur Mensa war

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Daria blickte Ariane nach, die auf dem Weg zur Mensa war. Das ganze Gelände war so unüberschaubar. Es würde bestimmt ewig dauern, bis sie sich zurechtfand. Zum Glück hatte sie nur ein paar Einführungsveranstaltungen besucht. Trotzdem, in ihrem Kopf tanzten Namen und Räume herum und sie war froh, dass sie heute noch etwas vorhatte, das nichts mit der Universität zu tun hatte. Unterm Strich betrachtet, waren hier einfach zu viele Menschen. Alle waren beinahe anstrengend jung, aufgedreht und absolut ahungslos. Daria schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu sortieren. Zum Glück wohnten Pauls Eltern nicht weit entfernt. Ein wichtiger Umstand, denn ihr kleiner Polo stand immer noch in der Werkstatt. Sie freute sich tatsächlich darauf, Pauls Familie wiederzusehen. Vor allem, weil die Darrers sich eben nicht permanent an die Gurgel gingen. Die Tasche schlug gegen Darias Beine und sie drehte sich um, um die Schultergurte zurechtzurücken. Hinter ihr räusperte sich jemand.

Die Haare des hageren Mannes standen wild in alle Richtungen ab und Daria zog eine Augenbraue hoch. »Hallo Tata. Was für eine Überraschung. Was machst du hier?«

Thomas Meiner fuhr sich durchs Haar und schaffte es, dass es noch unordentlicher aussah als vorher. »Ach, ich gehe nur spazieren. Es ist ein schöner Tag heute.«

»Was für ein Zufall, dass wir uns hier treffen. Vor meiner Universität.«

Der Kopf ihres Vaters hüpfte auf und ab, und er schluckte, bevor er sprach. »Ja. Genau. Was für ein Zufall.«

Seine Antwort ließ Daria grinsen. »Hast du lange herumgestanden?«

»Ein bisschen. Ich wusste nicht, wann du aus hast.«

»Aber die Uni ist groß. Was hättest du gemacht, wenn ich auf der anderen Seite hinaus gegangen wäre?.« Sie griff nach seinem Arm und hakte sich unter. »Du hättest einfach fragen können, ob wir uns treffen.«

»Ach, dies war die naheliegendste Wahl, wenn du über den Zoo fährst. Und ich wusste sowieso nicht, ob ich es schaffe. Wegen der Termine, weißt du?«

Dann war es ein Glück, dass die Station in der gleichen Richtung lag wie Pauls Elternhaus. Hohe Bäume säumten den Weg und warfen lange Schatten auf den Bürgersteig. »Dein Rücken?«

»Ach nein, nicht so schlimm.« Ihr Vater winkte ab und streckte sich, bis er beinahe so groß war wie sie. »Möchtest du mir deine Tasche geben?«

»Nein, nicht nötig. Sie ist nicht schwer.«

Schweigend gingen sie die Straße entlang.

»Ich wollte nur einmal nach dir sehen, nachdem du letztes Wochenende nicht gekommen bist«, erklärte er schließlich.

»Schickt dich Mama?«

Jetzt schnaubte ihr Vater. »Wohl kaum. Wie geht es dir denn, Kotku?«

Der Klang des alten Spitznamens hob Darias Laune. Sie sah ihren Vater fiel zu selten. »Gut, Tata. Das Studium hat aber auch gerade erst begonnen.«

»Das freut mich.« Ihr Vater lächelte wehmütig. »Fragst du dich auch manchmal, was geschehen wäre, wenn ...« Der Satz brach ab..

»Wenn wir Torben nicht verloren hätten?«

Er nickte.

»Beinahe jeden Tag.«

»Vielleicht würdest du schon längst an einer tollen Schule unterrichten. Vielleicht wärt ihr beide schon verheiratet und hättest einen Haufen Kinder.«

»Und du Enkelkinder?«

Sein Gesicht strahlte beinahe. »Warum auch nicht. Ihr würdet uns einmal die Woche besuchen kommen. Vielleicht ganz klassisch, am Sonntag. Torben wäre bestimmt zur Polizei gegangen.«

»Meinst du?« Seine Mundwinkel sanken herab und Daria sprach schnell weiter, um die zerbrechliche Stimmung zu retten. »Ja, kann gut sein.« Oder auch nicht. Wer wusste das schon?

Ihr Vater tätschelte ihren Unterarm. Am Ende der Straße tauchte die Station auf. Dort würde sie einsteigen müssen, wenn sie ihm nicht erklären wollte, dass sie zu ihrer Ersatzfamilie unterwegs war. Daria kaute auf ihrer Unterlippe herum. Würde es ihn überhaupt verletzen oder würde er sich freuen, dass es jemand gab, der sich um sie kümmerte?

»Ich bin sehr stolz auf dich, weißt du das?«

An der roten Ampel blieben sie stehen. »Natürlich. Ich auch auf dich, Tata. Du hälst dich super.«

»Meinst du?« Zweifel standen in seinem Gesicht, auch wenn seine Züge entspannter wirkten.

Daria richtete sich auf. Was brachte es schon, ihm die Wahrheit zu sagen? Man trat niemanden, der am Boden lag. Schon gar nicht jemanden, den man immer noch liebte. »Ja.«

Er deutete unbestimmt in eine Richtung die Straße hinunter. »Ich habe noch ein bisschen was zu erledigen. Es war schön, dich zu sehen, Kotku.«

Während sie ihren Arm aus seiner Beuge zog, drückte er für einen Augenblick seine Lippen gegen ihre Schläfe.

Daria sog den Moment in sich ein. »Sehen wir uns bald wieder, Tata?«

»Natürlich.« Sobald er sich gelöst hatte, sanken seine Schultern hinab und er war wieder der kleine zarte Mann, der so unscheinbar wirkte, dass man ihn leicht übersehen konnte. »Ich melde mich. Versprochen.«

Auch wenn sie seinen Versprechungen nicht mehr glauben konnte, seine Liebe zu ihr hatte sie nie in Frage gestellt. Daher zwang Daria ein breites Lächeln auf ihre Lippen und winkte, bis er hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war.

Sie überquerte die Straße und wich einer Familie mit einer kleinen Tochter aus, die zwischen ihren Eltern ging und von einem weißen Streifen auf den nächsten hüpfte. Das Mädchen lachte breit, als Daria vorbeiging. Sie selbst hatte eine Mutter mit Kontrollzwang und einen Vater mit Fluchtkomplexen. Wäre es zuviel verlangt gewesen, nur ein paar solche leichten Momente in ihrer Kindheit genießen zu können?

Die Fenster im Erdgeschoss von Pauls Elternhaus standen weit offen, als sie es erreichte. Sofort entspannte sich ihr Körper und mit jedem Schritt, den sie näher kam, hob sich ihre Laune. Der Duft nach Rühreiern und frischen Brötchen wehte zu ihr hinaus. Darias Magen knurrte. Ob Heike den Duft absichtlich produzierte, um sie hinein zu locken?

Aber warum sollte sie? Pauls Eltern waren nett, mehr als nett. Sie behandelten sie beinahe so, als würde sie zu dieser großen, lauten und manchmal ganz schön verrückten Familie gehören. An diesen Brunchtagen war es beinahe so, als wäre sie auch ganz normal.

Wie immer öffnete sich die Tür, noch bevor sie klingeln konnte. Pauls Mutter drückte sie an sich, sein Vater winkte fröhlich und dann nahm sie schon Paul in Beschlag. Es dauerte nicht lange und sie saß eingeklemmt zwischen ihrem besten Freund und seiner Mutter und schaufelte Essen in sich hinein.


WG gesucht - Liebe gefunden (Stadtgeflüster)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt