K A P I T E L51

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Ich wusste nicht, dass man Sachen die eigentlich wie von alleine laufen, verlernen kann. Aber anscheinend ist das so, denn mir fällt das atmen immer schwerer. Ich stehe vor meinem Schrank und starre den Kleidersack an, den ich an meine Schranktür gehangen habe. Es wird alles real, oder eher gesagt noch realer. Die Nacht war die letzte offizielle, die ich in meinem Elternhaus verbracht habe und  heute werde ich wieder in den Armen des Mannes einschlafen, bei dem ich gelernt habe mich sicher zu fühlen. Mich geliebt zu fühlen.
Ich bin eine wahrhaftige Feministin. Ich liebe es arbeiten zu gehen, mein Geld zu verdienen und nach meinen eigenen, richtigen Vorstellungen zu leben. Aber Niemand kann es mir übel nehmen, wenn ich mich darauf freue einen Mann an meiner Seite zu haben, der mich liebt, der mich beschützen kann und ich mich auf seine Unterstützung freuen kann.

Meine Finger ziehen den Reißverschluss des Sackes auf und ich betrachte das weiße Kleid. Mein Kleid. Es ist genau so wie ich es mir immer gewünscht habe. Es ist bodenlang und fällt in einer schlichten A-Form herunter und hat weite Ärmel und offene Schultern, was mir besonders wichtig war. Ist es komisch zu sagen, dass ich in diesem Kleid so viel mehr sehe, als nur ein Stück Stoff? Ich sehe dort eine Zukunft, die ich mir lange Zeit nicht erträumen konnte. Eine unbefleckte, reine Zukunft. Vielleicht ist es naiv, mit solch einer Vorstellung in eine Ehe zu gehen aber was habe ich zu verlieren?
Lächelnd fahren meine Finger über den weichen seidenen Stoff, doch zu erst muss ich mich was anderem widmen und dafür lasse ich mein Handtuch fallen. Ich nehme mir meine Bodylotion mit Kokosduft zur Hand und reibe jeden Millimeter meiner Haut damit ein. Eigentlich hasse ich es Cremes zu benutzen, weil ich an sich keine trockene Haut habe und die bei mir einfach nie einziehen will. Aber heute muss es einfach sein. Danach nehme ich mir meine weißen Strümpfe zur Hand und ziehe sie mir über und dann kommt auch schon das weiße Spitzen Set, in das ich mich verliebt habe. Aber das was am wichtigsten ist, ist mein kleines Geschenk, das eher symbolisch als zweckdienlich ist. Es ist ein weißes Strumpfband, auf das ich seinen Namen genäht habe. Ich habe mich bewusst gegen das rote Band auf meiner Hochzeit entschieden, auch wenn es eine kleine Hochzeit ist. Man kann das Band in meinen Augen so gut reden wie man möchte aber in meinen Augen hat es einfach nur einen erniedrigenden Aspekt, der dazu führt, egal was die Frau tut, sie sich unwohl und verlegen fühlt. Ich meine welche Frau findet es schön, wenn man indirekt ihre Jungfräulichkeit feiert? Es ist eine Sache zwischen Gott und ihr und vielleicht auch eine Sache zwischen ihr und ihrem Mann.

Mein Bruder und mein Vater müssen mir dieses verdammte Band nicht umbinden, um zu wissen, dass sie mich ehrenvoll und mit einem gesunden Maß an Schamgefühl erzogen haben. Vielleicht ist es auch nur meine Meinung und sie spaltet sich von allen anderen aber meine Familie hat meinen Wunsch akzeptiert und das ist die Hauptsache. Sogar meine Mutter hat sich zurück gehalten und Nichts gesagt, was mich um ehrlich zu sein etwas verblüfft hat. Sie hat es mir wohl angesehen und mich auf Seite genommen, um mir etwas zu erzählen. Zu ihrer Zeit gab es überhaupt keine Diskussion über das rote Band. Trägst du es nicht warst du eine Schande. Aber meine Mutter hat mir vor Augen geführt, dass es wohl für sie der beschämendste Tag überhaupt war. Schließlich waren dort nicht nur männliche Verwandte und ihr Mann sondern auch Menschen die ihr Fremd waren und ihnen dann so schließlich, etwas vorgeführt wird, was doch so intim und privat ist. Wie kann man nur erwarten, eine Frau in solch eine Lage zu bringen? Man erzieht uns Jahre lang ein solch großes Schamgefühl an, nur um uns dann schließlich in eine beschämende Situation zu werfen.

Kopfschüttelnd betrachte ich das Strumpfband. Es ist meine Art meinem Ehemann zu zeigen, dass ich an erster Stelle mein religiösen Pflichten beachtet habe und er tatsächlich mein erster ist und ich bewusst bis zur Ehe gewartet habe aber es ist auch ein symbolisches Zeichen für Vertrauen. Wir hatten es nicht wirklich leicht auch wenn ich mich nicht beschweren sollte, denn andere Paare haben es bestimmt bei weitem Schlimmer aber wir sind endlich an dem Punkt angelangt, an dem wir uns vertrauen können. Ich rapple mich wieder in meine volle Größe auf und betrachte mich ein letztes Mal im Spiegel und ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Kein Funke der Unsicherheit ist gerade in meinem Körper, was mich mehr als glücklich macht. Ich schnappe mir wieder das Handtuch, um es mir wieder als Schutz umzubinden und laufe auf meine Tür zu „Bahar? Eylül? Kommt ihr?" rufe ich in den Flur und höre von unten beide Frauen miteinander reden, bevor sie im Schnellschritt zu mir nach oben kommen. Wir Frauen sind die einzigen die hier sind. Mein Vater ist mit meinem Bruder beim Friseur und meine Mama ist bei unserer Nachbarin, die gelernte Friseurin ist und ihre Haare macht. Da ich alles selber machen wollte, bekomme ich Hilfe von den zwei Damen, die gerade an mir vorbei in mein Zimmer gehen „Hast du schon das Hauptoutfit für unseren Enişte an?" Eylül lässt ihre Augenbrauen hüpfen und deutet auf die BH Träger, die ich wohlgemerkt später so an mein Kleid anbringen muss, dass die Träger nicht rausgucken. Ich weiß nicht ob das der Grund ist warum ich verlegen bin oder der Fakt das sie Ateş gerade Schwager genannt hat. Es hört sich in meinen Ohren einfach immer noch komisch an.
„Sei leise und widme dich lieber meinem Makeup." Murre ich und laufe auf meinen Schminktisch zu, der eigentlich mein Schreibtisch ist. Aber man soll doch Prioritäten setzen, nicht? Beide lachen im Hintergrund, doch tun dann zum Glück, dass worum ich sie gebeten habe. Ich bin in dieser frühen Morgenstunde wirklich noch nicht bereit für Späße.

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