Kit lief los und brüllte nach Shell, doch der Teenager war nicht aufzufinden. Er suchte zunächst an der Stelle im Wald, wo sie sich bereits am Morgen begegnet waren, dann am Tempel. Letztendlich fand Kit ihn hinter Callas Hütte, wo er sich erbrach. Unschlüssig stand Kit da und beobachtete, wie Shells Magen sich wiederholt entleerte und nur noch Magensäure den Weg ins Gras fand. Der Junge hatte sich vorgebeugt, seine Beine zitterten und als er fertig war, wand er sich von seinem Erbrochenen ab und sah dem Mann flüchtig ins Gesicht, während er um die Hütte herum stolperte und sich außer Sichtweite begab. Kit hatte Shells Gesicht nur kurz erblickt, doch dass ihm die Tränen über die Wangen gelaufen waren und auch Flüssigkeit aus seiner Nase tropfte, war unübersehbar gewesen. Der Mann hatte vorgehabt, Shell zu trösten oder in irgendeiner Form wieder aufzubauen und zu umsorgen, doch trotz seines Vorhabens wusste er nicht wie. Er wartete kurz und folgte Shell dann in Callas Behausung, in welche Shell sich zurückgezogen hatte. Als Kit leise eintrat, hockte der Junge auf seiner Pritsche und zog die Nase hoch. Das bisschen Tageslicht, was noch blieb, gab im geschlossenen Raum nicht mehr viel Preis, doch dass Shell ausgezehrt war, war nicht zu übersehen. Kit setzte sich zu ihm. Sie schwiegen für einen langen Moment.
„Du hättest mir nicht nachkommen brauchen. Dir hat die Show offensichtlich gefallen. Kein Grund, die Feierlichkeiten meinetwegen zu verlassen", ergriff Shell das Wort und drückte mit gesenktem Kopf seinen verletzten Arm gegen die Brust.
„Ich habe nicht damit gerechnet, dass Blut fließen würde. Die Idee erschien mir zu abstrakt, da habe ich sie nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Es hat mich unvorbereitet erwischt", erklärte Kit. Er sah ebenfalls mit gesenktem Kopf zu Boden.
„Offen gesagt, habe ich schon damit gerechnet. Zu einem richtigen Ritual gehört ein richtiges Blutopfer und dabei handelt es sich tatsächlich in den meisten Fällen um einen Menschen. Ich habe schon viel Blut gesehen, damals. Tote Tiere, Verletzungen. Es hat mir nie etwas ausgemacht, es gehörte zum Leben einfach dazu. Doch es kann nicht verglichen werden mit dem Mord an jemanden, den man kannte. Es kommt einem sinnlos vor. Sinnlos und grausam."
„Kanntest du den Mann?"
„Nein, aber ich kannte den Mann vor ihm. Sehr gut sogar."
„Es hat alte Wunden aufgerissen, oder?", Kit wusste mehr und musste aufpassen, dass er nicht zu viel davon verriet. Er wollte Shell im Glauben lassen, dass er nichts von den Umständen wusste, warum er und sein Großvater nie wieder hergekommen waren.
„Es können keine alten Wunder aufreißen, wenn sie nie wirklich verheilt waren", erklärte Shell und stand auf. Kit vermutete, er tat dies, weil ihm erneut Tränen über das Gesicht liefen. Shell blieb mit verschränkten Armen stehen, das Gesicht von Kit abgewandt und ließ den Kopf weiterhin hängen.
„Kann man etwas tun, damit du dich besser fühlst?", fragte Kit vorsichtig. Shell drehte sich abrupt um und sah ihn zornig an. Seine Körperhaltung hatte sich zu einer aggressiven verändert.
„Hörst du eigentlich selbst, was du sagst?", fauchte er.
„Was gedenkst du tun zu können, damit es mir besser geht? Ich habe meinen besten Freund sterben sehen. Sein Blut war an meinen Händen. Es war, um genau zu sein, überall, weil es aus seinem Hals wie eine Fontäne spritzte! Ich weiß nicht, was du gedenkst, auch nur annähernd dagegen tun zu können, dass ich seitdem keine Nacht ohne Albträume verbracht habe und bis jetzt nicht ein Tag vergangen ist, an dem ich nicht an den metallenen Geruch des ganzen Blutes denken musste. Was genau gedenkt, Christopher Webster, dagegen tun zu können, damit es mir besser geht?", Shell kam auf Kit zugeschritten und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Es hätte Kit nicht überrascht, wenn Shell ihm einfach aus dem Stand eine Ohrfeige verpasst hätte. Stattdessen baute Shell sich vor ihm auf und schien vor Wut nach Luft zu ringen. Kit bewegte sich keinen Zentimeter und sah Shell nur fragend an. Es lag kein Vorwurf in seinem Blick oder so etwas wie Angst oder Aggression. Kit sah ihn an, wie jemand, der resigniert hatte. Der Teenager schien irritiert durch seinen ausdruckslosen Blick und gewann etwas an Fassung zurück. Unvorhergesehen setzte er sich dann auf den Schoß seines Lehrers, wodurch sie ungefähr auf einer Augenhöhe waren. Mit einer Selbstverständlichkeit legte Shell ihm dann seine gesunde Hand von vorn um die Kehle. Die Hand war im Verhältnis zu Kits Hals nicht besonders groß, doch würde Shell mit seiner ganzen Kraft zudrücken, würde Kit mit Sicherheit auf eine schmerzhafte Weise die Luft wegbleiben. Kit wartete.

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Dschungelfieber
AvventuraCute as (S)hell - In einem fiktiven 1920 bewirbt sich der Musikstudent Kit Webster auf einen Job als Hauslehrer bei der wohlhabenden Familie Montgomery. Seine Aufgaben scheinen überschaubar: die Erziehung und Unterrichtung eines einzigen Kindes. Die...