Der Himmel brannte in einem glühenden Orange, als die beiden Wanderer am Abend das kleine Dorf in den Bergen erreichten. Nach den nervenaufreibenden Vorkommnissen hatten sie es auf ihrem weiteren Weg nur noch mit leichten Anstiegen und flach abfallendem Terrain zu tun gehabt, was in Anbetracht von Shells verletztem Arm eine Erleichterung war. Kit kam es vor, als würde ihnen nicht nur der Mangel an Nährstoffen zusetzen, sondern auch die dünnere Luft nach all den Höhenmetern. Schwerfällig schleppte er sich zusammen mit Shell die letzten Meter vor, sie konnten schon von Weitem Tempel erkennen und weitere pyramidenförmige Bauten. Die Größe und der Aufwand, mit dem sie errichtet wurden, ließ den Anschein erwecken, dass es sich um eine Vielzahl von Menschen handelte, die diesen Ort in den Bergen bewohnten. Diese Landschaft erinnerte an jegliche Dokumentationen über die mesoamerikanischen Hochkulturen aus längst vergangenen Zeiten und Kit bedauerte es, dass er sich so elend fühlte und erneut weder die Aussicht noch irgendetwas anderes seiner Umgebung wertschätzen konnte. Die Berge waren in Gold getaucht und der ferne Klang der Natur hatte etwas Magisches an sich, doch Kit hatte nur Augen für Shells geschwollenes, violettfarbenes Handgelenk und Ohren für die leisen schmerzerfüllten Seufzer, die der Junge alle paar Meter von sich gab. Er presste den Arm für den meisten Teil des Weges an seine Brust, um die Hand und den Unterarm irgendwie zu stützen und zu schützen. So hatte Kit ihn immer gut im Blick und konnte über den Tag zusehen, wie der Zustand sich immer weiter verschlimmerte.
„Ich hoffe, wir werden genauso freundlich begrüßt, wie bei Yuccan", murmelte Kit, als sie den Häusern immer näherkamen.
„Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass sie auf uns schießen werden", erwiderte Shell. Die Tonlage verriet Kit, dass er seine Aussage realistisch kalkuliert gewählt hatte und es demnach eine reelle Chance gab, dass man sie mit Pfeil und Bogen in Empfang nehmen könnte.
„Mit welchem Teil des Stammes bist du vertrauter? Mit den Leuten an der Küste oder mit diesem hier?", formulierte Kit seine Frage vage, in der Hoffnung sich das Wiedersehen schon ein wenig ausmalen zu können.
„Ich war mit den Leuten vertrauter, die wir hier treffen werden, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob dies immer noch der Fall sein wird. Du kannst davon ausgehen, dass man bald auf uns aufmerksam werden wird, oder dies sogar schon passiert ist. Erschrick nicht, sollte man uns plötzlich umzingeln oder sollte jemand einen Warnschuss abfeuern", gab Shell ihm schnell die Einweisung und machte ihm deutlich, in jedem Fall ruhig zu bleiben. Doch ein überraschender Angriff blieb aus. Sobald Kit einzelne Personen auf den Wegen erkennen konnte, blieben ein paar bereits stehen und hoben die Hand zum Gruß. Eine junge Frau mit großem Flechtkorb hielt an und kam dann gemächlich auf sie zu. Als sie deutlicher zu erkennen war, rief sie ihnen etwas zu und lächelte dabei. Shell antwortete nicht, sondern hob nur erschöpft die gesunde Hand.
„Scheint mein Glückstag zu sein", murmelte er, doch Kit konnte nicht deuten, ob es sich dabei um Sarkasmus handelte oder ob Shell es ernst meinte. Das Mädchen kam vor Kit zu stehen und musterte ihn aufmerksam. Sie war mit vielen unterschiedlichen Federn geschmückt und deutlich stärker bemalt als die anderen Leute, welche Kit bis zu dem Zeitpunkt kennengelernt hatte. Außerdem war sie mit Perlen und Schmucksteinen behangen und trug rötlich gefärbte Tücher. Sie sprach mit Shell, ohne Kit dabei aus den Augen zu lassen. Es war unangenehm, da Kit das Gefühl hatte, sie würde mit ihm sprechen und nicht mit Shell. Shell antwortete ihr gebrochen in ihrer Sprache. Die Stimmung zwischen den beiden war angespannt, das bemerkte Kit sofort. Sie unterhielten sich freundlich, doch unterschwellig lag eine kühle Distanz zwischen ihnen. Das Mädchen deutete auf Shells Hand und fragte ihn etwas. Dann ging sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Shell folgte ihr mit ein wenig Abstand, Kit schloss sich hilflos an.
„Wohin gehen wir?", war im Augenblick die in Kits Augen wichtigste Frage, die er zuerst stellen wollte.
„Zu Callas Hütte. Sie sagt, dass sie sich meinen Arm mal ansehen kann."
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Dschungelfieber
PertualanganCute as (S)hell - In einem fiktiven 1920 bewirbt sich der Musikstudent Kit Webster auf einen Job als Hauslehrer bei der wohlhabenden Familie Montgomery. Seine Aufgaben scheinen überschaubar: die Erziehung und Unterrichtung eines einzigen Kindes. Die...