„Du bist echt spät, so spät bist du noch nie gewesen. Ich habe mich dieses Mal tatsächlich totgestellt, weil ich dachte, du wärst jemand anderes", grummelte Shell vor sich hin, als Kit die Plane notdürftig hinter sich schloss und schwer ausatmete. Er ließ sich auf seine Schlafdecke plumpsen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er antwortete Shell nicht, was untypisch für Kit war. So untypisch, dass es Shells Aufmerksamkeit erregte.
„Ist alles okay?", fragte der Teenager vorsichtig und runzelte die Stirn. Als er immer noch keine Antwort von Kit bekam, richtete er sich auf und rückte vorsichtig dichter an den anderen heran.
„Kit? Ist etwas passiert?", Shell kramte nach der kleinen Lampe, die zur Ausstattung des Rettungsbootes gehörte und entzündete sie. Als er Kits Gesicht erblickte, weiteten sich seine Augen.
„Da ist Blut", stotterte Shell, die Hand, mit der er die Lampe hielt, begann leicht zu zittern. Irritiert fasste sich Kit ins Gesicht und wischte sich über die Nase. Als er die Hand wieder herunternahm und eine große Menge Blut an ihr entdeckte, welches er wohl aus seinem Gesicht gewischt hatte, war er überrascht. Durch das Taubheitsgefühl hatte er nicht mitbekommen, dass ihm aus der Nase nicht unerheblich wenig Blut gelaufen war, was sogar einen Teil seines Uniformkragens dunkel eingefärbt hatte.
„Oh, das hatte ich gar nicht gemerkt. Aber ich denke, es sieht schlimmer aus, als es ist. Es ist nichts gebrochen, keine Sorge", lächelte Kit. Shell schwieg.
„Ich wollte nur um ein paar Zigaretten Karten spielen und dann gabs etwas Stress. Aber wie zuvor erwähnt, es ist wirklich nicht schlimm", versuchte Kit ihn zu beschwichtigen und zwang sich zu einem leicht künstlichen Lächeln. Shell war wie weggetreten. Seine Pupillen waren gespenstisch klein im Schein der Öllampe. Seine Hände zitterten immer auffälliger, während der Rest des Körpers sich versteifte.
„Shell? Sag bloß, dass du kein Blut sehen kannst?", Kit war das Lachen nun komplett vergangen.
„Ich habe was zu essen mitgebracht!", versuchte er vom Thema abzulenken und zückte nach und nach verschiedene Lebensmittel aus seiner Tasche, so wie Zigaretten und eine kleine Flasche Schnaps. Mit jedem Gegenstand, den er vor Shell ablegte, wurde es unheimlicher, da Shell immer noch nicht reagiert. Seine Atmung beschleunigte sich hörbar und seine Augen waren immer noch auf Kits blutende Nase fixiert. Shell wirkte panisch auf ihn. Die Situation erinnerte Kit daran, wie der Junge im Schlaf von Alpträumen geplagt, gekrampft hatte und Kit wurde zum ersten Mal bewusst, dass Shell psychisch wirklich angeschlagen war. Kit berührte ihn am Arm und führte diesen samt Lampe von seinem Gesicht weg, sodass seine blutige Nase nicht weiter ausgeleuchtet wurde. Dann öffnete er den Alkohol und ließ davon etwas auf das nächstbeste Stück Stoff träufeln, was er in die Finger bekam, um sich das Gesicht damit zu waschen. Als er alles grob gereinigt hatte, näherte er sich vorsichtig wieder Shell und nahm ihm sanft die Lampe aus der steifen Hand. Kit löschte das Licht und stellte sie zurück in das Fach für die Notfallausrüstung. Er wusste nicht, was zu tun war, also musste er sich auf seine Intuition verlassen. Dann nahm er eine der Decken und legte diese Shell sanft um die Schulter.
„Was wird uns in Südamerika erwarten?", fragte Kit leise ins Dunkle. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass der Grund, warum Shell nicht mehr reisen sollte, mehr als triftig war. Der Teenager antwortete nicht, sondern rollte sich in seine Decke ein und drehte sich zur Seite. Kit wusste, dass es unmöglich war, jetzt noch etwas aus ihm herauszubekommen, also entschied er sich dazu, ebenfalls zu schweigen und den Wellen zu lauschen, die gegen den Bug des Handelsschiffes schlugen. Müdigkeit überkam ihn und er erinnerte sich, dass er selbst einen sehr unruhigen Abend hatte und Schlaf vielleicht nicht das Schlechteste wäre. Er nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Spirituosenflasche, mit der er sein Gesicht gereinigt hatte und legte sich dann nieder. Kit schloss die Augen und als er schon am Wegdämmern war, kam Bewegung in das kleine Häufchen Elend, welches am anderen Ende des Rettungsbootes hockte. Langsam schlug es die Decke über seinem Kopf weg und bewegte sich lautlos auf Kit zu. Wie eine Katze ließ der Junge sich neben Kit nieder und schmiegte sich an seinen Rücken. Kit brauchte einen Moment, um zu verstehen, was die Absicht des Jungen war. Ein Arm schlang sich um seine Taille und er konnte spüren, dass sich eine kleine Nase in sein Schulterblatt drückte. Kit konnte hören, dass Shell die Nase hochzog und seine feuchten Wangen an seinem Rücken abwischte. Sich schlafend zu stellen war, in Kits Augen, die einzig vernünftige Lösung, wenn er nicht riskieren wollte, Shell wieder zu verjagen und ihn die einzige Chance auf Komfort zu verwehren.

DU LIEST GERADE
Dschungelfieber
PertualanganCute as (S)hell - In einem fiktiven 1920 bewirbt sich der Musikstudent Kit Webster auf einen Job als Hauslehrer bei der wohlhabenden Familie Montgomery. Seine Aufgaben scheinen überschaubar: die Erziehung und Unterrichtung eines einzigen Kindes. Die...